Wolfsblut - Teil 2 Kapitel 34: Die letzte Scheibe
Teil 2: Eis
Kapitel 34: Die letzte Scheibe
Leo atmete tief durch und lehnte sich gegen den Schreibtisch an der Rezeption. Das Lachen war mittlerweile verklungen, doch der Schock saß dem Wolf noch in den Knochen. Er sah auf. Etwas Licht fiel durch die mit Spinnweben übersäten Fenster und füllte den Raum, doch das dunkle Licht ließ die Umgebung nur noch unheimlicher erscheinen.
,,Ich muss das Ganze mal realistisch sehen. Es gibt keine Geister, das ist alles Einbildung, vermutlich eine Nebenwirkung des Fluchs." Er ballte die Fäuste und kniff die Augen zusammen. Er fühlte sich in diesem Moment schrecklich einsam. Der Fluch, nie wieder ein richtiger Wolf sein zu können, schmerzte wie ein Messer, welches in sein Innerstes stach.
Leo hielt sich den Kopf und nahm einen tiefen Atemzug. Er durfte jetzt nicht schwach sein. Er bohrte seine Krallen in das alte Holz des Schreibtisches, welches knackend splitterte. Viele Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf. War das, was er vorhin in diesem Koffer gesehen hatte, wirklich real oder war es nur eine Täuschung?
Leo schüttelte den Kopf und überlegte. ,,Wieso sollte hier ein Totenschädel sein?"
Er blickte auf. Das Zimmer machte den Eindruck, als könnte es jeden Moment zusammenbrechen. Durch die vielen Spinnweben sahen einige Möbel verschleiert aus und der Holzboden war auch morsch und brüchig.
,,Wenn ich es mir recht überlege, passen Überreste von Lebewesen doch hier rein."
Sein Fell sträubte sich vor Ekel. Er rümpfte die Nase und bemerkte erst jetzt, dass die Luft sehr stickig war.
Die Treppenstufen knarrten, als Leo sie betrat. Der Wolf ließ sich davon nicht stören. Er richtete seine Ohren nach vorn und hielt seinen Blick in die Finsternis vor ihm fixiert. Seine Sinne konzentrierten sich auf die Dunkelheit und verdrängten die Angst. Sein Fell prickelte, als er die letzte Stufe überwunden hatte und wieder vor dem Raum stand.
Plötzlich war die Angst wieder da und Leos Nackenfell stellte sich auf, während sich seine Ohren anlegten. Nervös kratzte er mit der Kralle an der Wand entlang, bevor seine Pfote den Türknauf umfasste. Schweiß stand auf seiner Stirn, als sich die Tür quietschend öffnete.
Leo betrat widerwillig den Raum. Alles in ihm forderte ihn dazu auf, umzukehren, nur sein Wille ließ ihn nicht gehen, er wollte jetzt nicht den Schweif zwischen die Beine klemmen und kneifen. Er würde die Sache, die er begonnen hatte, zu Ende führen.
Die Tür fiel zu, Leos kurze Schnurrhaare zuckten unbehaglich. Langsam ging er auf den Koffer zu, dessen Inhalt ihn so erschreckt hatte. Ein Blick zur Seite verriet Leo, dass das zerbrochene Radio noch da war, diesmal hörte er allerdings kein Lachen.
Er spähte in den Koffer und atmete erleichtert auf, als er dort keinen Totenkopf vor fand. Das Einzige, was er in diesem Koffer fand, war eine alte, staubige Lupe mit einer zerbrochenen Linse.
Aufregung prickelte in seinem Fell, als er in den Koffer griff. Das Bild des Totenschädels schoss ihm wieder in den Kopf. Fest umschloss seine Pfote den Griff der zerbrochenen Lupe. Sein Fell legte sich und seine Gedanken ordneten sich wieder. Neugierig betrachtete er die Lupe. Sie musste schon ein altes Modell sein. Leo vermutete, dass sie schon viele Jahre hier lag.
,,Haver", las er auf dem Griff. Er runzelte die Stirn. ,,Haver muss der frühere Besitzer gewesen sein."
Er erhob sich und überlegte. Ihn bedrängte das Gefühl, dass es nicht das erste Mal war, dass er diesen Namen hörte. Leo kramte in seine Tasche. ,,Ich hätte mir etwas gegen Kopfschmerzen mitnehmen sollen", sagte er sich, während er einen Schluck Wasser nahm.
Er verschloss die Flasche wieder und sah zu dem Fenster. Im Gegensatz zu den Fenstern der unteren Etage waren diese hier nicht von Spinnweben befallen. Leo fiel die tiefe Dunkelheit auf, die draußen dominierte. Es war bereits Nacht geworden. ,,Wie lange bin ich wohl schon hier?", fragte er sich, während er die schwarze Silhouette eines kahlen Baumes beobachtete, die sich hinter dem Fenster im heulenden Wind bewegte.
Plötzlich erinnerte er sich, wo er dem Namen schon einmal begegnet war.
Leo blätterte in dem Buch und überflog die Namen.
,,Mr. Haver, Zimmer 1f." Zufrieden schlug er das Gästebuch zu und griff ich den passenden Schlüssel, um nicht wieder vor verschlossener Tür zu stehen.
Er stieg die Treppen hoch, die auch dieses mal nicht weniger knarrten, als würden sie bald zusammenbrechen.
Als Leo vor dem Zimmer stand, machte sich wieder ein mulmiges Gefühl in seinem Bauch breit. Er wusste nicht, was ihn erwarten würde. Seine Muskeln spannten sich an.
Er dachte gar nicht daran, jetzt noch zu kneifen. Der Schlüssel raschelte und entriegelte das Schloss. Quietschend öffnete sich die Holztür.
Leo atmete auf und sein Blick fiel sofort auf ein Plakat an der Wand. Eine junge Häsin mit pechschwarzem Fell und langen Haaren, die die Farbe von zartbitterer Schokolade hatten, war darauf abgebildet. Über dem Foto prangte ein großer Schriftzug: 'Vermisst.'
Leo trat näher an das Bild, legte den Kopf schräg und blinzelte. Er zuckte zusammen und bekam erneut Kopfschmerzen. Leo taumelte einige Schritte zurück und ließ sich in einen alten Sessel fallen. Seufzend strich er sich über die schmerzenden Schläfen.
Nachdem er sich einen Moment ausruhen konnte, blickte er wieder auf und entdeckte einige weitere Zettel, die neben der Vermissten-Anzeige an der Wand hingen. Er stand auf und trabte gemächlich zu der mit Zetteln und Plakaten behangenen Wand.
,,Mr. Haver war also ein Inspektor, der die vermisste Häsin Helen suchte."
Leo studierte die alten Zeitungsberichte, die um die Anzeige aufgehangen wurden, aufmerksam. Er fand heraus, dass sich die Häsin oft in diesem Hotel aufgehalten hatte und zuvor viel Kontakt mit Fremden hatte, sodass diese verdächtigt wurden.
,,Geheimnisse im Keller des Harbor Hotels?", las Leo auf einem Artikel. Er überflog die Zeilen. ,,Das Mädchen war überzeugt davon, im Keller auf das Geheimnis gekommen zu sein, wie man mit den Verstorbenen in Kontakt treten konnte."
Leo weitete die Augen, als er das Foto einer kleinen Scheibe entdeckte. ,,Das ist fast die gleiche Scheibe, die Sesuke gefunden hatte, nur dass auf dieser ein Edelstein eingraviert ist." Er zuckte mit den Ohren, als er unter dem Foto einen eingezeichneten Schlüssel entdeckte. Unter dem Schüssel war ein rotes Zeichen abgebildet. Leos Finger fuhr über das Zeichen, er war sich sicher, dass der Schlüssel und das Zeichen nicht gedruckt, sondern anschließend in die Zeitung gezeichnet wurde.
Er wandte sich von der Wand ab und machte kehrt. Die Zeitung wurde zusammengerollt und in den Rucksack gesteckt, als er die Treppe betrat, die hinab zum Erdgeschoss führte.
,,Die Scheibe ist garantiert im Keller, wenn ich die hab, kann ich endlich von diesem Ort verschwinden."
Vor der alten Kellertreppe stoppte er und nahm einen tiefen Atemzug. Er konnte das Ende der Treppe nicht erkennen, er sah nur die endlose Dunkelheit. Entschlossenheit brannte in seinen Adern, er wollte die Sache schnell hinter sich bringen, also ging er schnellen Schrittes die Treppe herab. Seine Füße kribbelten, als die Stufen immer kühler zu werden schienen.
Als er schließlich das Ende der Treppe erreichte, war das Licht so schwach, dass er kaum die alte Holztür erkennen konnte, die ihn nun noch vom Keller trennte.
,,Verschlossen, hätte ich mir ja denken können."
Als er wieder an der Rezeption bei hellem Licht war, griff er sich erneut die Zeitung. In seinem Kopf brannte sich das rote Zeichen ein, welches auf die Zeitung gezeichnet wurde. Es waren zwar nur Linien und Bögen, doch Leo bekam bei dem Anblick Kopfschmerzen. Er konnte sich nicht erklären, weshalb, doch er wusste, dass er dieses Zeichen schon kannte.
Sein Blick heftete sich auf den gezeichneten Schlüssel neben dem Zeichen. Er war sich sicher, dass er diesen Schlüssel brauchte, um voran zu kommen. Seine Pfote legte sich auf die Brust und spürte neben den dröhnenden Kopfschmerzen, wie sehr sein Herz hämmert. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf die vielen Gedanken in seinem Kopf.
Schließlich fiel Leo ein, woher er das Zeichen kannte. Schnell stolperte die alte Treppe, die zur ersten Etage führte, hinauf. Vor der letzten Treppenstufe hielt er an und kniete sich nieder. Das rote verschnörkelte Zeichen war groß auf der Stufe gezeichnet. Leo verglich es mit dem Zeichen auf dem Zeitungsblatt und bestätigte, dass die Zeichen identisch waren.
Leo bemerkte, dass die rote Farbe auf dem Holz bereits verlief, als wäre das Zeichen erst kürzlich gezeichnet worden. Er folgte der roten Spur, die bis zur Kante der Stufe führte und griff an die untere Kante, wo er schließlich den Schlüssel fand, der dort klebte.
Quietschend öffnete sich die alte Kellertür und das fahle Kerzenlicht flutete den langgezogenen Raum. Der Boden war kalt und feucht, die Luft stickig.
Leo ging einige Schritte voran und betrachtete die vermutlich einst weißen Wände, die bereits vergilbt und fleckig waren. Seine Aufmerksamkeit richtete sich wieder nach vorn, doch er konnte trotz des Kerzenlichts nichts erkennen. Die unheimliche Stille und die Kälte ließen ihn zittern. Sein Schweif lag eng an seinen Beinen und die Ohren waren angelegt. Er wollte das Ganze nur schnell hinter sich bringen und ging einen Schritt schneller. Er nahm einen tiefen Atemzug, doch er nahm keinen Geruch war, als wäre nie jemand in diesem Keller gewesen.
Nach einigen Metern konnte Leo etwas erkennen. Es schien ein Tisch zu sein. Leo atmete erleichtert auf und ging weiter. Als er näher kam, bemerkte er, dass es ein kleines, steinernes Podest war, auf dem eine goldene Schale stand.
Der Wolf trat vor das Podest und jubelte innerlich, als er die Scheibe in der Schale entdeckte. ,,Na endlich, jetzt kann ich endlich von hier verschwinden."
Er griff sich die Scheibe und machte kehrt. Während er sich umdrehte, dröhnte ein schreckliches Fauchen in seinen Ohren. Leo ließ die Kerze fallen, deren Licht sofort erlosch. Das Fauchen hielt an, Leos Fell sträubte sich und er hielt sich winselnd die Ohren zu, während er in die Knie ging. Das Fauchen verwandelte sich in ein Röcheln, welches Leo einen eiskalten Schauer durch den Körper schickte. Er rang nach Luft, doch das was er einatmete, schien ihn ersticken zu lassen. Leo fiel auf die Seite und verlor das Bewusstsein.
Leo blinzelte und rümpfte die Nase, da sich ein unangenehmer Duft verbreitet hatte. Er reckte den Kopf und spitzte die Ohren, als eine weiche Stimme erhallte. Leo rieb sich die Augen, da das Licht nun viel heller war. Er stützte sich mit den Arme und sah sich um. Wieder erklang die Stimme. Es war ein Lachen. Ein glückliches und weibliches Lachen.
Der Wolf rappelte sich auf und erkannte endlich, zu wem die Stimme gehörte. Eine kleine Häsin mit pechschwarzem Fell und ausdrucksstarken Augen. Sie trug ein violettes Kleid mit vielen schwarzen Mustern. Sie schien sehr glücklich zu sein. Leo legte den Kopf schräg und fragte sich, woher er das Gesicht kannte.
Plötzlich ertönte ein lauter Knall, die kleine Häsin schrie schrill auf und der Raum wurde von der Dunkelheit geflutet. Die Stimme verstummte. Für eine kurze Zeit hatte Leo das Gefühl, das Gesicht eines Panthers zu sehen. Er sackte zusammen und versuchte Klarheit über seine Gedanken zu bringen.
,,Sunhào sorgte schon vor vielen Jahren für Gefühllosigkeit. Helen war eines ihrer Opfer. Nachdem Chénmò erschaffen wurde und Sunhào eine neue Form annahm, wurden immer mehr Furries zu gefühllosen Wesen, die ebenso kaltblütig töten."
Leos Ohren zuckten, als er die Worte hörte.
,,Leo, du kannst helfen, Chénmò zu zerstören, du hast die Gene der Federwölfe in dir."
Der Wolf wand den Kopf und suchte nach den Besitzern der Stimmen, doch er fand nichts.
,,Gene der Federwölfe." Die Worte hallten in seinem Kopf wider.
Ein warmes Gefühl breitete sich in ihm aus, als sich ein Körper an ihn schmiegte.
,,Mutter? Bist du das?", fragte Leo. Als er hinter sich sah, war dort nur eine kleine Lichtkugel.
,,Wir sind keine Federwölfe, diese Gene haben wir dir nicht vererbt."
Leo blickte nach vorn, wo eine zweite Lichtkugel schwebte. ,,Vater?"
,,Mein Sohn, wenn du ein richtiger Wolf werden willst, musst du Mut beweisen. Ein Federwolf gibt niemals auf."
Leos nickte. ,,Ich gebe nicht auf", sagte er und schloss die Augen. Die beiden Lichtkugeln schienen sich mit ihm zu verschmelzen. Leo legte den Kopf in den Nacken und jaulte laut. Vor seinem geistigen Auge schien etwas zu Glitzern. Leos Augenlider zuckten und er versuchte sich auf das kleine Funkeln zu konzentrieren. Das Funkeln wurde zu einer großen Lichtkugel, die wie ein Feuer flackerte und immer größer wurde.
Leo lächelte, als er erkannte, dass die Lichtkugel die Form eines Wolfes annahm. Dieser Wolf hatte schöne, grüne Augen und schneeweißes Fell mit einigen hellen Markungen. Leo kam es vor, als würde er in einen Spiegel sehen, der Anblick erinnerte ihn an sich selbst.
Er schlug die Augen wieder auf und bemerkte, dass ihn ein greller Schein umgab, der den dunklen Keller flutete. Ebenso wie die Dunkelheit war seine Angst verschwunden, er hatte das Gefühl, nun alles schaffen zu können.
Er ballte die Fäuste und spürte die Scheibe in seiner Pfote. ,,Ein Gestaltwandler gibt niemals auf."
Leo bemerkte das hellblaue Leuchten auf seiner Brust. Der dunkle Fleck auf seiner Brust schien zu glühen. Erst jetzt bemerkte Leo, dass sich ein Schleier des Lichts um ihn legte. Das Licht hüllte ihn ein und formte sich zu lockeren Gewändern. Das Glühen auf seiner Brust ließ nach und der Fleck hatte die Form eines Sichelmondes aufgenommen.
,,Das muss etwas mit den Genen der Federwölfe zu tun haben. Ich bin nicht bloß ein einfacher Gestaltwandler, da ist auch noch etwas anderes."
Er machte eine Pause und wandte den Kopf. ,,Diese Stimmen, die ich gehört habe, gehörten zu meinen Eltern."
Leo strich sich über die Brust und spürte die Wärme, die von der Aura des Lichts ausging. ,,Ich fühle mich ganz anders. Ich fühle mich besser, was auch immer eben passiert ist, es hat etwas verändert."
Er blickte auf und stellte sich die Frage, was es denn mit den Federwölfen auf sich hatte. Währenddessen ging er einige Schritte voran. Das Licht, welches ihn umgab, erlosch, doch sein Mut blieb, während er durch die Dunkelheit schritt, die die Helligkeit verschlang.
Die geöffnete Pfote legte sich auf das kalte Stahl des Türschlosses. Leo ließ ein Bellen aus seiner Kehle hallen. Seine Pfote wurde von einem Schleier des Lichts umgeben und das Schloss verbog sich. Leos Augenbrauen verzogen sich und das Schloss gab nach, während die Tür aufsprang und brach.
,,Leo!", rief eine besorgte Stimme. Die Lefzen des Wolfes zogen sich zu einem Lächeln, während er sich fallen ließ.
Canjy hielt den Wolf fest in den Armen und hatte einen erleichterten Ausdruck im Gesicht. ,,Ich hatte mir solche Sorgen gemacht. Sesuke hatte gesagt, du wärst rein gegangen, doch die Tür war verschlossen und wir bekamen sie nicht mehr auf. Was ist passiert?"
Leo antwortete nicht. Ein Klimpern weckte Mazarus Aufmerksamkeit, der dem Fuchs nur ausdruckslos zugesehen hatte. Er kniete sich nieder und sah auf den Boden.
,,Ist alles in Ordnung bei ihm? Es tut mir leid, ich hätte ihn nicht allein da rein gehen lassen dürfen", sagte Sesuke mit gesenkter Stimme. Canjy erwiderte nichts. Er nahm den Wolf hoch und bemerkte, dass Leo bereits schlummerte.
,,Das hier hatte er bei sich." Mazaru hielt die kleine Scheibe hoch, die Leo fallen gelassen hatte, als Canjy ihn umarmte.
Sesuke zuckte mit den Ohren. ,,Die letzte Scheibe, Leo hat sie gefunden."