Jungfernflug
Nadine blinzelte, als sie das Halbdunkel des Treppenhauses hinter sich ließ und ins Licht der aufgehenden Sonne trat. Die rechteckige Fläche, über die sie nun ging, hatte das öde Grau von Stahlbeton. Sie war schmutzig und erweckte den Anschein, als sei sie seit Jahren von keinem Menschen mehr betreten worden. Vorsichtig kletterte sie auf die niedrige Begrenzungsmauer und schaute sich um. Für ihr Vorhaben hatte sie sich das Dach des höchsten Gebäudes ausgesucht, und ein atemberaubender Anblick ließ sie die Mühe des Ersteigens von endlosen Treppenstufen vergessen. Zu ihren Füßen lag die Stadt als ob sie sich zum Schlaf ausgestreckt hätte. Noch war es friedlich, und kaum etwas rührte sich zu dieser frühen Stunde. Aber bald würde sich das friedliche Bild ändern. Menschen würden als Lebenssaft die Adern der Stadt durchströmen und für vielleicht dreizehn oder vierzehn Stunden würde sie zu einem vitalen, hektischen, gierigen, wollüstigen Lebewesen werden, das Träume hervorbrachte und zerstörte. Liebte. Haßte. Kopulierte. Vernichtete. Bis es wieder in einen kurzen, friedlichen Schlaf versank. Nadine erkannte das in diesem Augenblick, und sie wußte plötzlich, weshalb sie sich nie eins gefühlt hatte mit dieser Welt. Ihr Blick reichte in der klaren Morgenluft weit über die Stadtgrenze hinaus. Sie erblickte von ihrem Aussichtspunkt aus die grünen Felder, wo die Bebauung spärlicher wurde und schließlich ganz versiegte, bis hin zu den sanft geschwungenen Zügen der Berge ganz hinten am Horizont. Sie ließ die leichte Jacke, die sie getragen hatte, fallen und blickte ihr nach, wie sie als roter Fleck an der Fassade herunterschwebte. Es erstaunte sie, wie langsam ihre Jacke nur sank, unruhig flatterte und an manchen Stellen von der Thermik sogar wieder nach oben geblasen wurde, als wolle die Stadt das Opfer, das sie ihr darbrachte, nicht annehmen. Aber an diesem Morgen zeigte sie sich gnädig und schließlich verlor die junge Frau das Kleidungsstück in den Straßenschluchten aus den Augen. Erwartungsvoll streckte sie sich und lockerte ihre Muskeln.
Die Schwingen waren Nadine vor sieben Jahren, kurz nach dem Tod ihrer Mutter, gewachsen. Bereits in der langen Zeit ihrer Krankheit hatte sie einen immer wiederkehrenden Traum, in dem sie über endlose unberührte Landschaften flog. Als sie dann auf ihrer Schulter zwei Knoten ertastete, war sie zuerst wie betäubt. Sie war damals fünfzehn gewesen, und hatte natürlich in allen Einzelheiten miterlebt, wie der Krebs langsam und auf grausame Weise ihre Mutter tötete. In einem verzweifelten Versuch, die Tatsachen zu ignorieren, erzählte sie niemandem etwas davon, noch nicht einmal ihrem Vater. Doch schon bald erkannte sie, daß ihre Entdeckung mit der Krankheit ihrer Mutter nichts zu tun haben konnte. Zu rasend schnell wuchsen die Knoten heran und brachen schließlich auf. Ihr Schock war aber um so größer, als sie begriff, daß irgend etwas dabei war, aus ihren Schultern zu wachsen. Anfangs waren es häßliche kleine, fleischige Dinger, wie Tentakel, die sie verschämt unter der Kleidung versteckte. Nadines Träume vom Fliegen wurden in dieser Zeit immer ausschweifender und intensiver, aber noch kam sie nicht darauf, eine Verbindung zwischen den beiden Ereignissen herzustellen. Aber nach einigen Wochen begannen die Federn zu sprießen. Zuerst nur ein wolliger Flaum, der sich aber schnell zu einem in allen Regenbogenfarben schillernden Federkleid verwandelte. Und noch etwas stellte das Mädchen überrascht fest. Offensichtlich war außer ihr niemand in der Lage, ihre Flügel wahrzunehmen. Das beängstigende Wachstum der Schwingen verlangsamte sich dann und sie wurden nur noch allmählich größer. Jedoch waren ihre Dimensionen nach zwei Jahren so angewachsen, daß Nadine ernsthafte Probleme dabei bekam, passende Kleidung zu finden. Glücklicherweise war sie dazu in der Lage, sie so eng an ihren Körper zu falten, daß sie nicht störten. Aber sie konnte nichts tragen, was zu eng am Körper anlag oder an der besonders empfindlichen Stelle scheuerte, wo die Schwingen aus ihren Schulterblättern hervorgebrochen waren. Und außerdem war es weitaus bequemer und kam ihr auch natürlicher vor, sie frei hängen zu lassen. Immer öfter unternahm sie Ausflüge in die Umgegend, nur um ihre Schwingen ausbreiten zu können und das berauschende Gefühl zu erleben, wie sich der Wind in dem irisierenden Federschmuck fing. Nach langem Ausprobieren legte sie sich auf einen bestimmten Typ Kleidung fest, als die beste und bequemste Art, ihren Schwingen die benötigte Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Sie legte sich ein ganzes Sortiment zu, im allgemeinen mit weit ausgeschnittenen Rückenteilen, und war dazu übergegangen, wann immer möglich, diese Sachen zu tragen, was ihren Ruf, ein wenig sonderbar zu sein, noch verstärkte. Unter anderen Menschen fühlte Nadine sich immer fremder und eingeengter und ohne es selbst zu wissen, baute sie eine immer größere Distanz zu ihnen auf auf und sonderte sich mehr und mehr ab. Ihr Elternhaus verließ sie kurz nach ihrer Volljährigkeit, um in eine eigene Wohnung zu ziehen. Sie wußte, daß sie anders war als alle anderen und das betraf sogar ihren Vater, bei dem sie sich immer unwohler gefühlt hatte. Ihre Schwingen waren jetzt fast so groß wie ihr restlicher Körper. Nadine konnte sich gar nicht mehr vorstellen, wie es wäre, ohne sie zu sein. In ihrem Badezimmer hatte sie einen großen Spiegel aufgestellt. Sie liebte es, sich nackt davor zu stellen, sich zu betrachten und ihre farbenfrohen Schwingen so um ihren Körper zu legen, daß sie völlig darin eingehüllt war. Bei dem Gedanken daran, welche Angst sie ausgestanden hatte, als sich ihr Körper veränderte, konnte sie nur noch lächeln. Ihre Jungfräulichkeit verlor Nadine mit neunzehn. Sie hatte Patrick einige Wochen zuvor kennengelernt. Er war nur unwesentlich älter als sie und beide hatten sich Hals über Kopf ineinander verliebt. Sie verbrachten ihre Freizeit immer öfter miteinander und eines Abends ergab es sich einfach, daß sie bei ihm blieb. Nadine war ziemlich aufgeregt, als sie zusammen im Bett lagen und er sie in die Arme nahm. Patrick war sehr zärtlich und sie wollte es ebenso sehr wie er. Sie legte liebevoll ihre Schwingen um ihn und war überrascht, wie sehr es sie erregte. Es war wirklich nicht die Schuld Patricks, daß die Nacht für Nadine völlig anders verlief, als sie es sich ausgemalt hatte. Die Vereinigung war sehr schmerzhaft und ihre Erregung war plötzlich wie weggeblasen. Hinterher weinte sie und verließ fast fluchtartig seine Wohnung. Sie weinte ebenfalls, als sie ihm am nächsten Tag den Brief schrieb, in dem sie ihm erklärte, ihn nicht mehr wiedersehen zu wollen. Obwohl sie sich dabei elend fühlte, blockte sie alle seine Kontaktversuche während der nächsten Wochen ab, so daß er es schließlich aufgab. Sie wußte nur zu gut, wie sehr sie ihn damit verletzt hatte. Und immer noch hatte sie regelmäßig ihre Träume, in denen sie hoch über diesen Landschaften flog. Über die Jahre waren sie immer konkreter und eindringlicher geworden und jetzt veränderten sie sich wieder. Immer war Nadine alleine dahingeflogen. Niemals hatte sie ein menschliches Wesen gesehen, nur ab und zu konnte sie auf dem Boden Herden von rehartigen Tieren dahinziehen sehen. Doch nun konnte sie plötzlich, weit entfernt, fast am Horizont, ein geflügeltes Etwas ausmachen. Während der nächsten Wochen näherte sie sich der Gestalt immer weiter, und als sie sie schließlich erreichte, erkannte sie einen jungen Mann, der sie anlachte. Genau wie sie hatte er zwei mächtige Schwingen, nur daß die seinen tiefblau waren. Er umkreiste sie immer noch fröhlich lachend und schlug Kapriolen. Nachdem sie ihre Überraschung überwunden hatte, ließ sie sich glücklich auf sein Spiel ein. Sie lieferten sich Wettflüge, schraubten sich in den Himmel, um sich im Sturzflug gemeinsam wieder fallen zu lassen und schlugen Loopings. Dann war er plötzlich bei ihr und sie klammerte sich an ihn. Für die junge Frau war es wie ein Rausch, als sie sich während ihres rasenden Fluges liebten. Nadine erwachte und fühlte noch die Hitze ihrer Leidenschaft wie ein Echo in ihrem Körper nachklingen. Es war mitten in der Nacht und sie war vollkommen erschöpft, aber glücklich, wie noch nie in ihrem Leben. Während des folgenden Jahres, das sie auf der Universität verbrachte, hatte sie noch zwei oder drei kurze Affären mit anderen Männern, die aber alle die gleiche unbefriedigende Mischung aus warmem Speichel, stinkendem Schweiß und klebrigem Sperma waren. Sie gab schließlich die Hoffnung auf, jemanden zu finden, der in ihr auch nur einen annähernd überschwenglichen Sinnestaumel hervorrufen könnte, wie es in dem Traum jener Nacht geschehen war. Sie gab auch ihr Studium auf, da sie nun endgültig wußte, nicht für diese Welt geschaffen zu sein und nahm eine schlechtbezahlte Arbeit an, die aber ausreichte, um sie über Wasser zu halten. Sie wußte, daß sie geboren war, um zu fliegen. Immer weiter würde sie fliegen, bis sie schließlich andere ihrer Art fand, und den Mann, dem sie nur ein einziges Mal begegnet war und den sie seitdem liebte. Mit seinen wunderschönen blauen Flügeln.
Die Stadt zu ihren Füßen begann sich langsam zu regen und Nadine wandte den Blick dem Himmel zu. Sie breitete ihre schillernden Schwingen aus und lächelte der Sonne zu. Glücklich stieß sie sich vom Rand des Gebäudes ab.