Kiddy´s großes Abenteuer (extended)

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Heyas, die folgende Story ist die Extended-Version. Es ist eine Commission an Todeskiddy meinen

(inzwischen) Verlobten. Ich liebe dich ganz doll, viel Spaß damit.


Kiddy's Großes Abenteuer

Teil 1: Flucht nach vorne

Wutentbrannt trat Erik gegen seinen Rucksack. Tränen standen ihm in den Augen, verächtlich wischte er sie beiseite. Der junge Fuchs hatte sich beim vorangegangenen Abendessen einen heftigen Streit mit seinen Eltern geliefert. Jetzt war er gefrustet; immer wieder zog er bei solchen Auseinandersetzungen den Kürzeren. Aus Strafe für sein Verhalten hatte er Fernsehverbot bekommen, was natürlich auch seine Spielkonsole betraf sowie Hausarrest. Dabei waren ab morgen Herbstferien. Bei der Diskussion nur Minuten zuvor war es darum gegangen, dass er über Nacht bei seinem Klassenkameraden Pascal übernachten wollte. Eigentlich sprach nichts dagegen, fand er, schließlich war Samstag. Seine Mutter mochte Pascal jedoch nicht. Nachdem Erik und er vor einem Jahr die Zeit vergessen und bis nach Mitternacht in einer Hütte im angrenzenden Wald gespielt hatten, gab es regelmäßig Streit, wenn nur der Name seines Wieselfreundes fiel. So auch heute, sie hatte Erik verboten, bei Pascal zu schlafen. Alle von Eriks Argumenten half, auch kein Bitten und Betteln, sie war hart geblieben. Aus hilfloser Wut hatte er seinen Stuhl nach hinten umgeworfen, ein aus voller Kehle gebrülltes ‚Ich hasse dich!' im Raum stehen lassen und war wütend in sein Zimmer gestapft. Mittlerweile war er immerhin Dreizehneinhalb Jahre alt und fühlte sich nicht mehr wie ein Kleiner Welpe, dem man alles verbieten kann. Seine Mutter sah das Ganze selbstverständlich anders. Hastig schritt er im Zimmer auf und ab. Im Augenblick war er viel zu aufgewühlt, um sich hinzusetzen. Mit geballten Fäusten, seine Krallen gruben sich bereits schmerzhaft in die Innenfläche seiner Pfoten, redete er mit sich selber. „Hausarrest!" Er schnaubte herablassend. „Das lass' ich nicht zu! Ich bin kein Baby mehr." Immer wieder ging er dieselbe Strecke hin und her. „So was is' nicht mehr drin! Elende Scheiße!" Angestrengt dachte er nach. Es sollte die nächsten Tage noch mal schön warm werden. Die Wetterfee von Pro7, eine in ein stets makellos gebügeltes Kostüm gesteckte Colliedame hatte dies gestern freudestrahlend verkündet. Bestimmt wären alle seine Klassenkameraden dann draußen und spielten. Die Hilflosigkeit, die ihn überkam, als er sich die Situation vorstellte, war groß: Erik wäre in sein Zimmer gesperrt und alle seine Freunde spielten draußen. Erneut trieb es ihm die Tränen in die Augen. Prompt hasste er sich selber dafür, so schwach zu sein. Wie könnte er seine Mutter bloß überzeugen, das Verbot früher aufzuheben? Vielleicht, wenn er morgen früh ein schönes Frühstück machte, ganz artig war ... Je länger er jedoch darüber nachdachte, umso mehr spürte er, wie er es satt hatte immer nur zu Kreuze zu kriechen, nachzugeben, zu betteln; überhaupt ständig nur von ihr abhängig zu sein. Er müsste einfach allen beweisen, dass er alt genug war, sich seine Freunde selber auszusuchen. Beim Umherschauen in seinem Zimmer fiel sein Blick auf das Sparschwein, oben auf dem Regal. Ein paar Minuten starrte er es nur regungslos an, dann hatte er eine fixe Idee. Aus der Idee wurde eine konkrete Überlegung und am Ende fasste er einen verwegenen Plan. Er würde endlich alleine über sein Leben entscheiden; niemand sollte ihm mehr etwas verbieten. Um dieses Ziel zu erreichen, wartete er, bis der Tag sich dem Ende zuneigte. Erst als die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war und die Landschaft vor seinem Fenster in stiller Dunkelheit lag, wurde er wieder aktiv. Er spähte auf den Flur, indem er die Tür einen Spalt weit öffnete. Sein Zimmer lag im ersten Stock. Im Haus herrschte Ruhe, auch von unten aus dem Wohnzimmer war nichts zu hören. Wahrscheinlich hatten seine Eltern sich zurückgezogen, schauten Fernsehen oder philosophierten womöglich darüber, was für ein missratener Sohn er doch war. Entschlossen holte er das dicke Porzellanschwein mit der Aufschrift ‚Kiddy' vom Regal. Kiddy, das war sein Spitzname. Er hatte ihn bereits viele Jahre. Nicht nur in seiner Familie wurde er so gerufen, auch Freunde und so mancher Lehrer hatten damit schon vor Längerem seinen wahren Namen ersetzt. Er gefiel Erik, speziell jetzt. Er würde sich selber von jetzt an auch nur noch Kiddy nennen, als krassen Gegensatz zu der Art und Weise wie er sich fühlte: erwachsen und selbstbewusst. Er wickelte das Schwein in sein Oberbett, nahm den größten Stein aus seiner Mineraliensammlung und schlug mit aller Kraft darauf ein. Das Porzellan barst mühelos und kaum hörbar. In diesem Moment fühlte Kiddy sich bestätigt und sehr selbstsicher. Was für eine simple Idee er doch gehabt und wie gut sie geklappt hatte. Bestimmt bekäme er auch keine Probleme, alleine klarzukommen. Hastig kratzte er alle Scheine und Münzen zusammen und verstaute sie in seinem Brustbeutel. Den Rucksackinhalt kippte er quer durchs Zimmer und stopfte einige Wechselklamotten hinein: T-Shirts, eine zweite Hose, Socken, Unterwäsche und einen dicken Pullover. Damit war dieser beinahe voll. Seitlich quetschte er noch eine Limoflasche sowie eine Taschenlampe daneben und legte sein nicht aufgegessenes Schulbrot vom Vormittag oben auf, bevor er ihn endgültig zuzog. Bekleidet mit einer Übergangsjacke schlich er vorsichtig die Stufen herunter. ‚Jetzt nur keinen Krach machen', dachte der jugendliche Fuchs, als er auf leisen Pfoten bis zum Eingangsbereich tapste. Dort zog er seine bequemen Sommerschuhe an und ging zur Tür hinaus. Erst, als Kiddy am Ende der Einfahrt angekommen war, traf es ihn wie einen Blitz: Er hätte doch einen Zettel hinterlassen können, dass er beabsichtigte abzuhauen. Dort hätte er hineinschreiben können, wie sehr sie alle selber Schuld sind und dass sie ihn nicht suchen bräuchten, weil er bestens ohne sie klarkäme. Jetzt jedoch schaute er sich nur ein Mal um. Erneut die Haustür auf- und zumachen wollte er dann doch nicht, also verwarf er den Gedanken. Als Kiddy dann seinen Kopf entschlossen nach vorne richtete, überkam ihn ein Anflug von Unsicherheit. Wo wollte er überhaupt hin? Rechts ging es ins Dorf, links verlief die Straße eine ganze Weile nur durch ländliche Gegenden, etwa durch Wälder und vorbei an Feldern. Der Himmel war klar, mit Regen rechnete er heute nicht mehr. Trotzdem wollte er nicht über Nacht im Wald bleiben, es wurde doch schon recht kühl dieser Tage. Immerhin war Herbst. Also wandte er sich nach rechts und ging in Richtung Ortschaft. Dort würde er einfach einen Zug nehmen und wegfahren. Eine ganze Weile marschierte er die Landstraße entlang. Immer wieder gingen ihm wütende Gedanken über seine Eltern durch den Kopf. Auch von seinem Vater war er enttäuscht. Es war zwar seine Mutter, die ihm letztendlich das Verbot ausgesprochen hatte, der junge Fuchs hätte sich aber von ihm mehr Rückendeckung gewünscht. Stattdessen hatte er der Entscheidung seiner Frau schlichtweg zugestimmt. Kiddy würde es einfach beiden zeigen, wie selbstständig er war. Auf seinem Weg die Landstraße entlang bekam er gleich mehrfach ein mulmiges Gefühl. Um ihn herum war es stockfinster und der Wald am Wegesrand schien ein beachtliches Maß an Eigenleben zu besitzen. Überall knackte und raschelte es. Einmal blieb Kiddy stehen und erschreckte sich gewaltig, als ein Stein vor ihm plötzlich Beine bekam und sich tapsig über den Asphalt bewegte. Mit einem skeptischen, zweiten Blick wurde ihm jedoch klar, dass er dort vor sich einen Igel hatte, der, durch seine Anwesenheit hochgeschreckt, ins Unterholz flüchtete. ‚Lauf, kleiner Kerl, ich tu' dir nichts', dachte Kiddy und ging weiter. Bis zum nächsten Dorf waren es knappe zwei Kilometer. Aufgewühlt, stolz und erwartungsvoll brachte der junge Fuchs diese Strecke hinter sich. Aber auch Zweifel keimte stellenweise in ihm auf. Im Grunde wusste er noch gar nicht, wo er hinsollte. Als er dann das Ortsschild passierte und die Bahnschiene sah, war diese Frage beantwortet: nur weg von hier, wohin war erstmal egal. Das war Kiddy Ziel genug. So löste er am Fahrkartenautomaten ein Ticket in die nächst größere Stadt. Die war nicht allzu weit entfernt und dort kannte er sich aus. Mit seinen Großeltern war er schon einige Male dort gewesen, das würde ihm helfen, sich zu orientieren. Der Bahnsteig war dunkel und bis auf ein junges Gepardenpärchen, das sich gegenseitig eng umschlungen hielt, verlassen. So wartete er eine halbe Stunde, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, auf den Zug. Einmal schreckte er hoch, als sich die Lichter eines Autos näherten. Er vermutete schon, dass seine Eltern sein Fehlen frühzeitig bemerkt hatten und geistesgegenwärtig zum Bahnhof gefahren waren, aber es stieg nur ein älterer Luchs aus und verschwand im Wartehäuschen. Als der Zug dann endlich einfuhr durchlief Kiddy beim Anblick der großen, lauten Lock ein letzter Anflug von Zweifel, aber er überwand sie und stieg in einen Waggon der zweiten Klasse. Er fand ein leeres Abteil, schloss die Tür und mummelte sich in den verstellbaren Liegesitz ein. Der Zug fuhr los und der Bahnhof seines kleinen Heimatdorfes zog ein letztes Mal an ihm vorbei, bevor nur noch immer schneller werdende Felder und Bäume das Fenster passierten. Kiddy legte sich den Rucksack zurecht und stopfte den dicken Brustbeutel, der ihm schwer um den Hals gehangen hatte, in die offene Reißverschlusstasche. Es ragte zwar etwas heraus, aber so würde er ihn bemerken und beim Aufstehen wieder anlegen. Mit dem Kopf an das Polster gelehnt dachte er über sein neues Leben nach: Bestimmt würde es aufregend und toll werden, endlich würde er sein eigener Herr sein können, er könnte sich frei bewegen und seine eigenen Ziele erreichen. Mit diesen Gedanken im Kopf schlief er nach wenigen Kilometern ein. Das Erwachen war wesentlich unangenehmer: „Endstation, alle aussteigen." Kiddy blinzelte verschlafen, er musste durch den Streit mit seinen Eltern total erschöpft durchgeschlafen haben. Ein Chamäleon in einer Schaffneruniform hatte die Tür zu seinem Abteil aufgerissen. „He, Kleiner! Alles OK?" „M-hm," murmelte der junge Fuchs, als er noch völlig benebelt seinen Rucksack griff und aufstand. Der Schaffner war schon wieder verschwunden. Draußen war es nicht mehr ganz dunkel, irgendwo hinter dem Horizont schien sich die Sonne bereit zu machen, bald aufzugehen. Jenseits der Häuserschluchten, die er aus dem Fenster sehen konnte, hellte sich die Dunkelheit etwas auf. Kiddy schrak hoch. ‚Häuserschluchten?' dachte er entsetzt. ‚Wo bin ich?' Er schaute auf seine Armbanduhr, kurz vor 5 Uhr morgens. Sein Armfell war völlig zerknittert, er hatte offenbar eine ganze Weile darauf gelegen und die Fahrt verschlafen. Was hatte die Echse gesagt? Endstation? Verunsichert sah er aus dem Fenster ... ‚Berlin (Hbf)' Seine Augen weiteten sich, drückten damit aber nur einen Teil des Entsetzens aus, das er beim Lesen des Schildes empfand. Er raffte erschrocken seine Sachen zusammen und stürzte auf den Gang. Der Schaffner war nirgends mehr zu sehen; Kiddy hatte nicht einmal mitbekommen, in welche Richtung er gegangen war. Der junge Fuchs tapste mit laut schlagendem Herzen zur Tür und stieg schließlich aus dem Zug. Kein Gefühl, das er in seinem jungen Leben bisher erlebt hatte, war vergleichbar mit der Hilflosigkeit, die ihn in diesem Moment zu übermannen drohte. Schlimmer konnte es nicht werden, dachte er. Doch er irrte sich. Als er an der Bahnsteigtreppe angekommen war, setzte sich der Zug, der ihn hergebracht hatte, wieder in Bewegung. Die elektronischen Anzeigetafeln an den Waggons waren mittlerweile umgesprungen auf ‚Koblenz'. Kiddy hatte sich wieder gefangen und gerade wollte er auf einen der Fahrkartenautomaten zugehen, als er mit seiner Pfote ins Leere griff. Sein Portemonnaie, der Brustbeutel! Sofort kontrollierte er die Seitentasche seines Rucksacks, aber auch dort war er nicht. Der geöffnete Reißverschluss zeugte von seiner eigenen Nachlässigkeit: Er hatte in der Eile vergessen, seine Geldbörse umzuhängen, nun lag sie vermutlich in seinem Abteil und fuhr quer durch die Republik. Er drehte sich um und sah mit ausdruckslosem Blick den Rücklichtern des letzten Waggons hinterher. ‚Koblenz' ging es Kiddy immer und immer wieder durch den Kopf. Jetzt gab es sogar noch eine Steigerung der Hilflosigkeit. Sein Geld würde er bestimmt nie wiedersehen. Er konnte gar nichts, er konnte nicht schreien, er konnte nicht weinen, er konnte nicht einmal klar denken. 1000 Bilder huschten vor seinen Augen entlang, alles, was ihm in den letzten Tagen widerfahren war, kam hoch, Gutes wie Schlechtes. Völlig in Trance ging er durch das fast verlassene Bahnhofsgebäude. Um 5 Uhr an einem Sonntag war selbst in Berlin nicht viel los. Erst als er in die frische Luft des Sommermorgens trat, brachen bei ihm alle Dämme. Er ließ seinen Rucksack von den Schultern gleiten und sank schluchzend an der Außenmauer des Bahnhofsgebäudes in sich zusammen. Ungebremst brach das Entsetzen über seine Situation über ihn herein. Plötzlich fühlte er sich doch wieder, wie der kleine, hilflose Welpe, der zu sein er so vehement geleugnet hatte. Solange er dort saß und weinte, kam niemand vorbei. Keiner interessierte sich für ihn, keiner half ihm, keiner bot ihm Unterkunft oder eine warme Mahlzeit an. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich einigermaßen gefangen hatte und mit leerem Blick über den beleuchteten Platz vor dem Bahnhof starrte. Nur wenige Leute liefen quer von links nach rechts über den großen Parkplatz, auch aus dem Durchgang, aus dem er selber soeben gekommen war, kamen jetzt mehrere Personen. Trotzdem wurde er nicht beachtet. Um aufzustehen und jemand Fremdes anzusprechen fehlte Kiddy der Mut, er war bis zum heutigen Tag eher wenig von zu Hause weggekommen. Ihm gegenüber hing ein Wegweiser. Er las das blau-weiße Schild. Würde er zur Bahnhofspolizei gehen? Aber auch das traute er sich nicht, immerhin war er ausgerissen und schwarzgefahren, seine Fahrkarte reichte doch nicht bis hier her. Bestimmt würde das Ärger geben. Bisher hatte der junge Fuchs es immer vermeiden können, mit der Polizei in Konflikt zu geraten, nicht zuletzt, da er wahnsinnige Angst hatte vor den Konsequenzen. Antriebslos ließ er den Kopf wieder sinken. Wie lange genau er mit seinem Gesicht in die feuchten Pfoten vergraben gesessen hatte, wusste er nicht, aber irgendwann hörte er Schritte. Jemand würde dicht an ihm vorbeigehen. Er verkrampfte, wagte nicht sich zu bewegen. Hoffnung und Unsicherheit rangen in seinem Inneren. Die Schritte waren jetzt ganz nah. „Hey du, ist alles in Ordnung?" fragte ihn eine Stimme, heller und höher als er sie erwartet hätte. „Hee ..." hakte sie jetzt auch noch nach. Kiddy hob den Kopf. In seinem Armfell hatte sich ein matter Abdruck seiner Stirn gebildet und sein Gesicht sah bestimmt nicht besser aus. Vor ihm stand ein jugendlicher Dingo. Er trug eine gewaltige, prall gefüllte Papiertüte von einer Bäckerei mit sich und schaute ihn besorgt, aber auch interessiert an. „M-hm?" drückte Kiddy schüchtern hervor. Der Dingo wirkte selber nicht sehr viel älter als er selbst, vielleicht 14 oder 15. Sein Kopf hatte die rassetypische Fellzeichnung: obenrum ein helles Braun, sogar die Innenfläche der Ohren hatte den selben Farbton. Erst seitlich der Schnauze und unterhalb der Augen, die Kehle hinab bis zum T-Shirt-Saum, wurde das Fell nahezu weiß. Insgesamt war er schlank und hatte einen wachen Blick. Spitz aufgestellte Ohren verliehen ihm einen aufmerksamen Ausdruck von Gewitztheit und Schläue, wie man ihn sonst nur Vulpinen nachsagte. Sein linkes Ohr hatte eine tiefe Kerbe, die ihn auf eine bestimmte Weise verwegen aussehen ließ. „Ob alles Okay ist, Kleiner," fragte sein gegenüber erneut. Die hohe Stimme bestätigte den ersten Eindruck, so lange schien der Dingo noch nicht im Stimmbruch zu sein. „Geht so," maulte Kiddy. „Nein, nichts ist Okay!" Er drehte den Kopf weg und sah herab auf das Pflaster unter ihm. Neue Tränen schienen sich hinter seinen Augen bereit zu machen, herauszudrängen. „Willst du nicht erstmal hochkommen? Vielleicht kann ich helfen." Der fremde Kanide blieb hartnäckig. „Weiß nicht." Das war sogar die Wahrheit. Kiddy wusste gar nicht mehr, was er eigentlich wollte. Er hatte so tolle Pläne gehabt, wollte sich alleine durchschlagen, sich selber beweisen und war so kläglich gescheitert. Die nächsten Tränen liefen seine eh noch feuchte Schnauze hinab und hingen an seiner schwarzen Nasenspitze, während er mit einer Kralle auf dem Steinboden kratzte, was blass-weiße Striemen hinterließ. „Komm mal hoch. Du siehst aus, als bräuchtest du einen heißen Kakao. Und ich mache den Besten." Der Dingo grinste, das konnte Kiddy hören, ohne ihn anzusehen. Er hörte es an der Art, wie er sprach. „Ich bin Daniel, oder einfach ‚Dan' wenn du magst." Er brauchte einige Sekunden, um zu reagieren, dann aber hob Kiddy den Kopf. „Erik, aber die meisten Leute nennen mich einfach nur ‚Kiddy'." „Okay, Kiddy!" Dan sprach den Namen mit leichtem Amüsement aus, ging aber nicht weiter drauf ein. „Komm mal mit, ich mach dir was Warmes." Kiddy rappelte sich hoch. Diesmal checkte er gleich drei Mal, ob er nicht erneut etwas liegen gelassen oder verloren hatte, aber außer seinem Portemonnaie war alles mit dem Reißverschluss verschlossen. Der Dingo war einen halben Kopf größer als er. Generell war Kiddy körperlich noch nicht so weit entwickelt wie manch Andere in seiner Klasse, so wirkte er neben dem Älteren Kaniden, wie dessen kleiner Bruder. Dan ging vor. Mit lässig baumelndem Tail überquerte er den Parkplatz, bog am Ende des großen Bahnhofplatzes in eine Seitenstraße. Nach 200 weiteren Metern blieb er vor einem unscheinbaren Hauseingang stehen. Das Gebäude war eines von jenen, die ihren Eingang etwas unterhalb der Straßenhöhe hatten. Er kramte einen Schlüssel hervor, schloss die Haustür, die schon deutlich bessere Zeiten gesehen hatte, auf und ging hinein. Den ganzen Weg über hatten sie sich angeschwiegen. Kiddy war nicht nach Reden zumute und der Dingo war stets mehrere Schritte vornweg gegangen und hatte seinen Schützling in Ruhe gelassen. Erst jetzt sprach Dan wieder, als er von innen mit der Pfote winkte. „Komm rein!" Staunend betrat Kiddy die subterrane Behausung. Sofort roch er die deutliche Note des Dingos. Offenbar lebte dieser hier alleine. Fremde Duftmarken waren keine auszumachen. Ein kurzer Flur führte rechts zu einer Art Küche und links in einen großen Raum, bestimmt zehn mal acht Meter schätzte er. Darin stand eine Couch, ein Tisch mit 4 Stühlen, zwei völlig unterschiedliche Kommoden und ein alter, aber großer Röhrenfernseher auf einem Beistellwagen. Auf dem Boden, über dem groben Estrich, lagen insgesamt 4 ebenso verschiedene Teppiche verteilt. In der hinteren, rechten Ecke des Zimmers befand sich ein Durchgang in einen weiteren Raum, vielleicht auch in mehrere. Ein fleckiger und nachlässig gestutzter Vorhang versperrte Kiddy die Sicht hinein. „Mein Reich!" kommentierte Dan. Kiddy sah in fragend an. „Wie, dein Reich? Wohnst du hier alleine?" „Japp." Dans Körperhaltung richtete sich auf, sein Tail hob sich ebenfalls stolz. „Okay, es ist nicht Versa e oder Mövenpick, aber dafür meins." „Und wie kannst du ...? Ich meine, du bist doch erst ... wie alt bist du?" „14," antwortete Dan, „aber im Frühjahr werde ich 15." „Und da wohnst du alleine? Wieso erlauben das deine Eltern?" fragte Kiddy verdutzt. Seine eigenen Sorgen waren für den Moment vergessen. Dans Mine wurde hart. Der Fuchs meinte, Trotz in den braunen Augen des Dingos zu lesen. Gleichzeitig drehten sich seine Ohren auch aggressiv nach vorne, als er antwortete. „Ich habe keine Eltern mehr. Ich bin im Heim groß geworden." „Oh!" Kiddy fühlte sich mies, er bereute seine Frage. „Tut mir leid!" Doch trotz der härte, mit der Dan seinem Gegenüber geantwortet hatte, erkannte Kiddy mehr. Hinter der aggressiven Fassade meinte der junge Fuchs, eine tiefe Trauer zu sehen, nur sehr wage und kurz, aber dennoch deutlich. Dan schüttelte sich und schaute ihm in die Augen. „Ach was, nicht so schlimm." Er blinzelte etwas länger. Als er die Augen wieder öffnete, hatte sich seine Mine verändert, sie strahlte wieder die bisher gezeigte Heiterkeit aus. „Ach was. Mir geht's gut." Er hob die Arme. „Sieh dich um, was will man mehr?" „Aber wie machst du das? Ich meine, wie bezahlst du das alles?" Dan räumte den Tisch frei, während er antwortete. Eine alte Müslischüssel und eine leere Packung Nugat Bits standen noch darauf. Kiddy liebte Nugat, es war so herrlich süß, davon konnte er nie genug essen. „Naja, die Möbel sind allesamt vom Sperrmüll. Wenn du die Termine kennst, kannst du dich da echt gut bedienen. Ich meine, schau dich um." Er verschwand in Richtung Küche Flur und redete, laut klappernd, weiter. „Die Wohnung hier kostet mich nichts, das Gebäude gehört einem alten Falken. Er vermietet es nicht. Ist ihm zu aufwendig. Außerdem, so sagt er, hat er selber genug Geld und am Ende bekommt das eh nur sein verhasster Halbbruder. Eigene Erben hat er wohl nicht." Dan rührte offenbar in einer Schüssel oder einem Topf. „Ich habe die Bude vor fünf Jahren gefunden. Die Tür war offen. Ich bin einfach rein und seitdem nie mehr weggezogen. Der Alte weiß, dass ich hier bin. Er sagt auch nichts, im Gegenteil, er hat Strom und Wasser angemeldet gelassen. Meint, er mag Kinder. Als ich sonstige Hilfe abgelehnt hab, hat er darauf bestanden, wenigstens die beiden für mich zu übernehmen. Is' ganz nett der Typ." Kiddy saß derweil auf der Couch und starrte den ausgeschalteten Fernseher an, in dem er sein verzerrtes Spiegelbild sehen konnte. Seinen Tail hatte er schüchtern über seinen Schoß gerollt und mit den Krallen zupfte er Krümel aus der weißen Spitze. „Aber ... vor fünf Jahren? Da warst du doch grad mal ..." „Neun, ja," unterbrach Dan ihn aus der Küche. Kiddy hörte auf zu pulen. „Aber wie? Ich meine, wie konntest du mit Neun alleine leben?" Er hielt inne, er wollte nicht schon wieder ins Fettnäpfchen treten und etwas Pietätloses fragen. „Ich hab mir ein Schloss besorgt und nach einigen Tagen auch geschafft es einzubauen. Hatte keinen Bock mehr auf Heim, da bin ich abgehauen." Ein letztes Mal klapperte Geschirr in der Küche, dann kam Dan mit einem alten Kantinentablett an, auf dem zwei dampfende Tassen Kakao und zwei Teller, sowie ein großes Glas rote Marmelade standen. „Oh. Aber ... ich verstehe das nicht, ist es da so schlimm? Ich meine, da hattest du doch immer Freunde und Erwachsene, die dir helfen und so, oder nicht?" Die Mine des Dingos verfinsterte sich. „Im Heim hast du keine Freunde. Ich zumindest nicht." Sein Blick wurde glasig, als die Erinnerungen hochkamen. „Sorry, ich hätte gedacht, dass ..." Kiddy überlegte. Was hatte er eigentlich gedacht? „... naja, dass man da ganz gut leben kann. Weißt schon. So spielen und so." Dan schnaubte verächtlich aus. „Spielen, ja klar. Wenn du verprügelt werden ‚spielen' nennst, kannst du da wohl 'ne Menge Spaß haben." Er wurde ruhig und nach einer Weile fügte er hinzu: „Und das ist dann noch nicht mal das Schlimmste." Seine Augen wurden feucht, er starrte in den Dampf, der sich gleichmäßig und geduldig durch die Luft zog. „Das Schlimmste?" Geistesabwesend redete Dan weiter: „Das sind die Nächte." „Ist es da so kalt?" fragte Kiddy naiv. Etwas Anderes konnte er sich nicht vorstellen. „Nein, es sind die Älteren. Wenn sie nachts ankommen. Manchmal zu Mehreren. Sie suchen sich Kleinere. Einer oder Zwei halten dich fest. Die Anderen ..." Er hielt inne, eine Träne lief ihm über die Wange, seine Lefzen bebten und ihm stockte sichtbar der Atem. Mehr sagte Dan nicht. Der junge Fuchs neben ihm wusste nicht, was sein Gastgeber dort erlebt hatte, aber es musste schlimm gewesen sein. Der wischte sich mit einer Pfote durchs Gesicht und fing sich allmählich wieder. „Egal ... trink lieber, bevor er kalt wird," forderte er Kiddy auf, als er die Tassen auf den Couchtisch stellte. Aus der großen Bäckertüte kippte er alle möglichen Brötchen und Plunderstücke aufs Tablett. „Wenn du auch was essen willst ..." Er deutete auf die Messer und die Marmelade. Vorsichtig schlürfte Kiddy von dem süßen Getränk. Die Wärme tat sehr gut und der kräftige Geschmack war wirklich angenehm. „Mmmh, gut," bestätigte er. Dan schob sich gerade eine dick mit Marmelade bestrichene Mohnstange in die Schnauze und lächelte ihn mit schwarzen Krümeln um seine Lefzen herum an. „Sind von 'nem Bäcker in der Nähe. Von dem bekomm' ich immer, was er am Vortag nicht verkauft hat. Naja, wenn was übrig bleibt, halt. Und du?" fragte er. „Was ist deine Geschichte?" Dan mümmelte seine Stange auf und bestrich sich, noch kauend, derweil die zweite Hälfte. „Ich?" Kiddy war wie vor den Kopf gestoßen. „Ich ... bin auch abgehauen ... schätze ich." „Schätzt du, ja?" Der sarkastische Tonfall war unüberhörbar, aber freundlich. Der Fuchs erzählte von den ständigen Streits mit seinen Eltern und seiner nächtlichen Reise bis nach Berlin sowie vom Verlust seiner Geldbörse. „Naja, kurz danach hast du mich ja auch gefunden." „Klingt, als hattest du eigentlich ein tolles Leben. Ich meine mit Haus und so, Eltern, eigenes Zimmer, weißt du?" „Ja, schon ..." Kiddy überlegte, dass sich seine Geschichte für Dan bestimmt anhören musste, wie Meckern auf hohem Niveau und hatte keine Idee, was er erwidern könnte. Zu seinem Glück kam der Dingo ihm zuvor: „Na, ich schätze ist alles eine Frage der Perspektive?!" Der Fuchs nickte nur. „Und nun?" fuhr Dan fort, „Wie soll's weitergehen?" „Hmh, ich denke ich werde morgen zur Polizei, mein Ausreißen ist wohl kläglich gescheitert. Mein Geld ist weg und ich kenne mich in Berlin gar nicht aus. Er ließ die Ohren hängen, als er an den bevorstehenden Ärger dachte, den er wohl bekommen würde. Bestimmt hätte er jetzt zu Hause Stubenarrest und Fernsehverbot, bis er Achtzehn wäre. Dazu kam, dass er episch versagt hatte, sich zu beweisen. „Weißt du, ich dachte gerade ..." Dan sah sich im Zimmer um „...wenn du magst, kannst du auch hier bleiben. Warum gleich aufgeben? Die Couch ist breit genug für ein paar Tage und Montag ist Sperrmüll, da könnten wir mit etwas Glück eine Matratze für dich finden." Der Plan klang sehr verlockend. Kiddy mochte den Dingo, er hätte nichts dagegen, hier zu bleiben. „Aber ohne Geld? Wovon soll ich leben?" „Mach's wie ich: putz' Autoscheiben, sammel Pfand oder, wenn du Glück hast und einer der Läden hier nimmt dich als Boten, dann verdien' dir einfach, was du brauchst. Jeder Tag hat seine eigenen Gelegenheiten, zu Geld zu kommen." Das klang alles schon viel besser. Dan wusste echt viel vom Leben, fand Kiddy. Die Verlockung, wieder sorgenfrei in seinem alten Zuhause zu sein war zwar noch immer präsent, jedoch verlor sie an Kraft, angesichts der Neugier und des wachsenden Ehrgeizes, es alleine zu schaffen. „Okay, ich mach's!" stimmte er ein. „Klasse. Willkommen in meinem bescheidenen Bau." Sie frühstückten zu Ende und Dan zeigte Kiddy alles. Hinter dem Vorhang war tatsächlich nur ein weiterer Raum, ein spartanisch eingerichtetes Schlafzimmer, bestehend aus einem Lattenrost, das einfach so auf dem Fußboden lag und einer Matratze darauf. Allerdings war alles mit sauber aussehenden Bezügen bespannt. Auch Dans Kleidung war sauber. Als der Fuchs ihn darauf ansprach, erklärte er, dass es tief im Keller eine große Industriewaschmaschine gäbe, die früher mal von allen Hausbewohnern mit Chips versorgt wurde. „Ich hab da eher meine eigene Methode," grinste Dan und zeigte eine durchlöcherte Waschmünze, an der ein langer Draht mit einer Fingerschlaufe hing. „Gibt es heute eine Möglichkeit, Geld zu verdienen?" fragte Kiddy, der sich so völlig ohne Zahlungsmittel nackt vorkam. Der Dingo musste nicht lange überlegen. „Heute ist Straßenfest im Ostteil der Stadt. Kleine Kirmes, Buden, Konzert. Wenn du möchtest, können wir da hin. Das geht immer gut ab da." „Aber ich habe doch kein Geld, ich wollte etwas verdienen, nicht ausgeben." „Vertrau mir." Dan wuschelte Kiddy den Kopf und die Ohren. Missbilligend blinzelte dieser bei der Behandlung und richtete sich grummelnd die Haare neu. An der Bushaltestelle zahlte Dan beiden eine Kurzstrecken-Fahrkarte. „Is' billiger, müssen wir nur eine Weile laufen." Keine Stunde später standen die beiden neuen Freunde bereits inmitten einer großen Ansammlung von allen möglichen feiernden Leuten. Eine komplette Einkaufsmeile zelebrierte pompös ihr 45-jähriges Bestehen. Überall gab es Fress- und Getränkebuden und Fahrgeschäfte für die Welpen. Aber auch einen Autoscooter - ein BreakDancer und ein Riesenrad standen etwas weiter die Straße herab. Zwischendrin gab es Maskenbildner, die Welpen und Erwachsene gleichermaßen schminkten. Sie klebten ihnen falsche Nasen, Ohren oder Barthaare an. Dazu kam die übliche Riege an fahrenden Händlern und Drehorgelspielern. Am Meisten aber war auf der angrenzenden Wiese los, dort stand eine Bühne und davor eine gewaltige Traube von Zuhörern, die einer weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannten Band lauschten. Schon nach den ersten Schritten hob Dan einen robusten Plastiktrinkbecher auf, kippte die Reste heraus und präsentierte ihn stolz Kiddy. „Unsere Einnahmequelle für heute," verkündete er. „Becher sammeln? Och komm schon." Sein Dingofreund hatte zwar Latex-Pfotenschuhe für beide eingepackt, aber die Idee die klebrigen, angesabberten Becher Anderer anzufassen, bereitete ihm Unbehagen. „Das bringt doch nichts," versuchte er noch zu erwidern. „Sieh dich um, hier liegen Hunderte Euros auf der Straße." Er warf Kiddy ein paar Pfotenschuhe zu und hob bereits den zweiten Becher auf. Die Rucksäcke hatten beide mit großen, schwarzen Müllbeuteln ausgestopft; jetzt trug Dan seinen vor der Brust und ließ den Becher hineinplumpsen. „Vertrau mir, pass auf, wir trennen uns und sehen uns in einer Stunde am Riesenrad erstmal wieder, okay? Wenn's dir dann nicht gefällt, machen wir Kehrt." Kiddy stimmte zu. Die anfängliche Skepsis wich schon sehr bald der Überraschung, wie schnell er eine beachtliche Anzahl Becher zusammen hatte. Überall ließen die Leute sie einfach fallen oder auf den Zäunen, Pollern und steinernen Balustraden stehen. Nach einer Stunde etwa schob er sich mit einem vollen Rucksack durch den Besucherstrom zum Riesenrad und das, obwohl er sie immer in 5er-Stapeln zusammengesteckt hatte. Dan wartete bereits auf ihn. Sein Rucksack vor noch sehr viel praller gefüllt und auch von seiner 3/4tel-Hose waren alle Beintaschen ausgebeult. Gemeinsam gingen sie zu einem der Getränkestände und tauschten ihren Pfand ein. Kiddy staunte nicht schlecht, es gab für jeden Becher einen ganzen Euro. So langsam dämmerte es ihm, dass die Idee herzukommen durchaus eine sehr Gute war. Am Ende hatte er nach nur einer Stunde 39€ in der Tasche, Dan sogar 54€. „Und? Weiter, oder nach Hause?" fragte der Dingo ihn, als sie endlich mit dem grimmigen Wirt abgerechnet hatten. „Aber nicht bei mir, ich bin keine Pfandannahme," grummelte der Wirt, ein schmieriger Braunbär. „Kein Thema, es gibt genug Andere hier," versicherte Dan. „Weitermachen, klar!" verkündete Kiddy angefixt. Er wollte unbedingt mehr sammeln, als Dan in derselben Zeit. Sie schlenderten noch zwei Stunden über die gesamte Meile und trafen sich anschließend mit erneuter Ausbeute wieder. Gemeinsam aßen sie eine Bratwurst mit Pommes und Kiddy kaufte sich ein billiges Lederimitat-Portemonnaie für das verdiente Geld. „Jetzt kommt der Clou!" Just als Dan aufgegessen hatte, kam hinter ihm die Band für eine Zugabe auf die Bühne. Er deutete auf die Konzertfläche. „Wir mischen uns unter die Zuschauer, zwischen denen liegen Dutzende Becher auf engstem Raum. Wenn die den Rasen verlassen, müssen wir schnell sein, denn meist gibt es offizielle Aufräumer, die den Platz ratzfatz leerräumen." Kiddy nickte mit voller Schnauze und schlang die letzten Pommes herunter. Es verlief genau so, wie sein Freund es beschrieben hatte, noch während der Zugabe sammelten die beiden Jugendlichen fleißig Becher ein. Sie waren nicht die Einzigen, mindestens zwei weitere Sammler fielen dem jungen Fuchs auf. Auch er stopfte die ineinandergeschobenen Becher jetzt reihenweise in seine Beintaschen, in seinem Rucksack stapelte er sie alle ordentlich ineinander. Am Ende ragten 4 Türme Plastikbecher aus dem Reisverschluss. Einige Zuschauer kommentierten seine Sammelei mit abfälligen Bemerkungen, aber er bemühte sich, sie zu ignorieren. Als die platzeigenen Aufräumer kamen (und sie kamen wirklich pünktlich zur letzten Note), verkrümelte er sich aus Angst vor Ärger und stellte sich abseits des Durchganges zur Straße. Dan war nirgends zu sehen. Dies blieb auch die nächsten Minuten lang so. Ein beklemmendes Gefühl der Einsamkeit und Ratlosigkeit befiel den jungen Fuchs. Mal wieder wusste er nicht, wo er war oder was er tun sollte, falls sein Freund verschwunden bleiben sollte. Glücklicherweise kam dieser nach fast zehn Minuten endlich angelaufen, sein Rucksack hing ihm nur noch auf einer Schulter und sehr viele Becher hatte er auch nicht dabei. Als er näher kam, sah Kiddy, dass seine Lefze blutete. „Was ist passiert?" fragte er besorgt. „Nichts," erwiderte Dan. „Hab nen alten Bekannten getroffen. Bin direkt in ihn reingelaufen, als ich seitlich vom Platz wollte, bevor die Security vorne anfing, Bechersammler zu verjagen. Marcel, der Drecksmarder! Hat mir voll eine gelangt, das bekommt er wieder!" Mit angewiderter Mine verwischte er das Blut mit der Pfote weg und schleckte diese dann sauber. „Und deine Becher?" „Die meisten hab ich dabei verloren. Wegen der Security bin ich dann nur noch abgehauen." Kiddy war entsetzt, so etwas war ihm in seinem Leben noch nicht passiert, er hatte sich nicht mal in der Schule in Schlägereien verwickeln lassen, bisher war er ohne körperliche Gewalt durchs Leben gekommen. „Sieh mal, dann hab ich halt für uns beide gesammelt." Stolz zeigte Kiddy seine Ausbeute. Dan winkte ab. „Nee lass' mal, das ist deins. Ich hab noch genug Geld." „Hm, wie du meinst, dann bezahl' ich aber wenigstens die Bahntickets zurück." „Deal!" Der Dingo hielt ihm die Pfote hin und sie schlugen ein. Noch nie war Kiddy mit einem Freund so schnell warm geworden. Das musste daran liegen, dass Dan ihm von Anfang an sympathisch war. Nachdem sie allen Pfand abgegeben und sich gemeinsam lachend noch 3 Runden mit dem Autoscooter gegönnt hatten, befanden sich in seinem neuen Portemonnaie fast 150 Euro. Er war stolz auf sein erstes, selbst verdientes Geld. „Teil's dir gut ein, das geht schnell weg," ermahnte der Dingo seinen jüngeren Freund. Auch zurück fuhren sie nur mit einer Kurzstreckenkarte, so war es bereits fast 20 Uhr abends, als sie endlich in Dans Wohnung ankamen. Der bereitete aus etwas Haferflocken und einem riesigen Beutel Rosinen (Kiddy nahm sich vor, mal zu fragen, wo er solch einen 5-Kilogramm-Beutel herhatte) ein einfaches Müsli zu. Fasziniert beobachtete der junge Fuchs, wie Dan auch noch Blockschokolade darüberraspelte. Dieser bemerkte die großen Augen, die ihn beobachteten, und erklärte sich. „Sind Zutaten aus 'ner Großküche. Ein Mal im Monat bekomme ich aus der Postkantine, was irgendeine Lagerzeit überschritten hat." Er zeigte Kiddy einen der Beutel mit dessen Haltbarkeitsdatum. Es lag nur 1 Woche in der Vergangenheit. Die beiden aßen auf, dann schaltete Dan den Fernseher ein. Während auf der Leinwand ein heldenhaft in Szene gesetzter Panther, zusammen mit einem anstrengend-quirligen Wieselpartner einen Kriminalfall löste, fragte der Dingo seinen Besucher aus. Kiddy erklärte, wo er herkam, erzählte von seinen (eher wenigen) Freunden, die er so selten besuchte und seinen Eltern, die ihm ‚ständig alles' verboten, wie er es nannte. „Klingt wie eine normale Familie für mich. Ich wär' froh, so ein zu Hause zu haben. Aber du wirst schon deine Gründe gehabt haben." Kiddy war etwas nachdenklich geworden. Hatte er es wirklich so gut gehabt? Die Erinnerung an den kürzlichen Streit und andere Auseinandersetzungen belegten ihm in seinen Augen das Gegenteil. So wirklich erklären konnte er es jedoch nicht. „Ja, hatte ich. Klingt bestimmt toll, ist aber echt nervig." Die beiden ließen den Film noch eine ganze Weile laufen, bis sie schläfrig wurden. Hier, in dieser fremden Stadt, auf der Couch des sympathischen Dingos, fühlte Kiddy sich wohl, immer wieder fielen ihm die Augen zu und Teile der Handlung gingen an ihm vorbei. Da er von sich aus nichts sagte, erlöste ihn Dan irgendwann. Der Fuchs hing neben ihm in den Seilen, hatte die Augen geschlossen und schnarchte sanft mit nach hinten angelehntem Kopf. „Komm, wir gehen schlafen," schlug er vor. Er holte dem Fuchs einige Decken und legte ihm noch eine Taschenlampe auf den Tisch. „Falls du nachts pinkeln musst. Wenn sonst was ist, ich penn da." Er zeigte auf den Vorhang zum Schlafzimmer. „Ich komm' schon klar," versprach Kiddy. Er hatte keine Zahnbürste mit, daher nahm er sich vor, gleich morgen etwas Grundausstattung zu kaufen. Er wartete, bis Dan den Vorhang hinter sich zugezogen hatte, bevor er sich die Hose auszog und sich in Unterhose und T-Shirt auf die Couch legte. Lange lag er nicht wach, doch in der kurzen Zeit gingen ihm noch sehr viele Eindrücke durch den Kopf, immer wieder fragte er sich, was die nächsten Tage wohl bringen würden. War das sein neues Leben? Es war schon komisch, Pfand zu sammeln und aussortierte Lebensmittel zu essen, auf der anderen Seite bot dieses Leben alle möglichen Freiheiten. So brandeten in seinem Inneren noch diese unterschiedlichen Gefühle aneinander, bis er schließlich erschöpft die Augen schloss und einschlief.

Teil 2: Eine Neue Welt

*Wupp* „Morgen, Schlafmütze!" Noch bevor Kiddy wach war, flog ihm ein Kissen ins Gesicht. Dan war bereits auf, er hatte nur seine Shorts an und tapste ins Badezimmer, wo er bei offener Tür ungeniert pinkelte und dabei munter weiterredete. „Na, wie haste geschlafen?" Der junge Fuchs wurde nur langsam klar im Kopf. Was ihm jedoch sofort auffiel, war, dass sein Gastgeber sich offensichtlich nichts daraus machte, in Unterhosen vor ihm herumzurennen. Kiddy war das eher unangenehm, von zu Hause kannte er das nicht, da hatten immer alle zumindest eine Jogginghose über. Zu seinem Entsetzen stellte er fest, dass auch er sich unter der Decke hervorgewühlt hatte und durch sein hochgerutschtes T-Shirt seine Unterhose zu sehen war. Hastig stand er auf und schlüpfte in Dans Abwesenheit in seine Hose. Sein Kreislauf quittierte den hastigen Wechsel von der Waagerechten in die Senkrechte mit einem unangenehmen Kribbeln. Er setzte sich wieder. Aus dem Flur erklang derweil die Klospülung. „Hey, bist du noch nicht wach, oder was?" fragte Dan, als er zurückkam. Kiddy vermied direkten Blickkontakt mit dem spärlich angezogenen Dingo, stattdessen antwortete er in Richtung des Wohnzimmertisches. „Mmm doch schon." Er checkte seinen Nacken und den Rücken, nichts tat weh. „Ich hab' gut geschlafen." „Dann geht's an's Frühstück organisieren," kündigte Dan an. Zu Kiddys Erleichterung schlüpfte er dabei endlich in seine Hose. „Organisieren? Sagtest du nicht, der Bäcker würde dir helfen?" „Ja, jeden Tag, außer montags. Ist ein Löwe, der mal ehrenamtlich im Heim ausgeholfen hat. Sonntags hat er seinen Laden ja selber nur auf Sparflamme, verkauft nur bis 11 Uhr Brötchen. Montags muss ich also immer sehen, wo ich bleibe." „Oh, okay. Und was isst du sonst montags? „Egal such dir was aus. Müsli ist noch da." Dan deutet in Richtung Küche. „Nee, ich will dir nicht alles wegfressen. Ich brauch' eh so Einiges, kann ich hier irgendwo einkaufen?" „Klar! Lidl, Edeka, Aldi, sind alle hier. Und keine Sorge, du frisst mir nichts weg." Die Ankündigung des Dingos sollte Kiddy zwar beruhigen, aber er wollte sich trotzdem beteiligen. Immerhin hatte Dan ihn aufgenommen, wer weiß, ohne ihn wäre sein Abenteuer vielleicht gestern Morgen schon auf dem Bahnhof geendet. Jetzt stand er einer völlig neuen Welt gegenüber. „Lidl!" entschied er. Sein Rucksack hatte, dank des Plastikbeutels, die Pfandbecheraktion vom Vortag gut überstanden. Jetzt schnallte Kiddy ihn sich auf den Rücken und sie gingen direkt los, nachdem auch der Jüngere von beiden, allerdings bei geschlossener Tür, auf der Toilette war. Der Fußmarsch war nicht weit. Das Wetter spielte einigermaßen mit, es war zwar nicht sonnig, aber wenigstens trocken. Im Laden packte Kiddy sich eine Zahnbürste, Zahnpasta und eigenes Essen in den Einkaufskorb. Bei manchen Lebensmitteln protestierte Dan zwar, aber das war dem Fuchs egal. „Ich komm schon klar," versprach er. Der große Schock kam allerdings bereits an der Kasse, wo die Gazelle, die seinen Einkauf über den Scanner gezogen hatte, anschließend um die 50€ verlangte. Immer noch entsetzt über die große Summe schaute er hinter der Kasse auf den Bon. Tatsächlich, sein eigenes Müsli, CornFlakes, Nutella und einige andere teure Posten trieben sie Summe in die Höhe. „Ich hab's dir ja gesagt," meinte Dan. „Wenn du auf eigenen Beinen stehen möchtest, solltest du einige Spartricks anwenden, sonst ist Vieles zu teuer." Kiddy nickte und packte stumm seinen Einkauf in den Rucksack. Es passte nicht alles hinein, so behielt er Cornflakes und Milch in den Pfoten, als sie sich auf den Rückweg machten. In seinen Gedanken war er immer noch am Rechnen, wie lange sein Geld bei solchen Preisen wohl reichen würde, als etwas völlig Unerwartetes passierte. Die beiden waren soeben erst in eine Gasse abgebogen, die direkt zum Hinterhof von Dans Wohnung führte, als es neben ihnen rumpelte. Von einem großen Müllcontainer sprang ein Marder herunter und rempelte Kiddy grob gegen die gegenüberliegende Wand. Der Aufprall raubte ihm die Sinne, vor seinen Augen blitzte es grell auf. Der Schmerz in seinem Kopf lähmte ihn. Wie lange es dauerte, bis er wieder klar war, konnte er nicht sagen, er bekam allerdings noch mit, wie Dan die Angreifer wütend beschimpfte. Eine jugendliche Ratte hatte sich auf ihn gestürzt und hielt ihn fest, während der Marder ihm kraftvoll in den Magen schlug. Dan stöhnte auf. „Hey Dan," zischte er, „haste'n Freund gefunden?" „Er hat 'nen Liebhaber," lästerte die Ratte. „Halt's Maul, Marcel! Wehr dich alleine, wenn du dich traust. Ich hau' dir die Schnauze zu Brei, feige Sau!" Die Provokation brachte Dan einen weiteren Fausthieb ein, diesmal direkt ins Gesicht. Blut lief von seiner Lefze. Kiddy war noch immer wie benommen. Er fühlte sich außerstande, aufzustehen oder einzugreifen. „Ich zeig' dir gleich eine ‚feige Sau'. Wie wär's, ich breche dir die Beine und lasse dich zusehen, wie ich deinem kleinen Fuchslover hier in den Arsch ficke?" „Fass' ihn an und ich werde ..." „WAS wirst du?" unterbrach Marcel ihn. „Sieh nur, der Kleine hat uns sogar unser Essen gekauft." Er ging auf Kiddy, zu, der sich aus Angst nur noch kleiner machte und die Augen schloss. Er hielt den Atem an und erwartete das Schlimmste. Das Nächste was er hörte war ein wildes Scharren von Krallen auf dem Steinboden. „Kleiner Ficker ..." beschwerte sich die Ratte, aber weiter kam sie nicht. Kiddy öffnete die Augen. Dan hatte sich aus dem Griff herausgedreht und es irgendwie geschafft, seinen Angreifer aus dem Gleichgewicht zu bringen. Marcel drehte sich um und fluchte über die Unfähigkeit seines Komplizen. Dem Dingo aber reichte die Zeit, die Ratte mit einem kraftvollen Schwung, Kopf voran, gegen die Hausmauer zu drücken, sodass sie benommen zusammensackte. „Ich bring dich um, du Wichser!" kündigte Marcel an und ging auf Dan los. Kiddy witterte seine Change. Er rappelte sich unter Schmerzen auf. Beinahe wurde ihm schwarz vor Augen, als er aufrecht stand. Vor ihm prügelten sich die beiden Kontrahenten. Der unerfahrene Fuchs staunte über die Brutalität, mit der beide vorgingen. Er sah sich hilfesuchend um. Alls was er fand war eine leere Bierflasche. Er hob sie auf und wollte in den Kampf eingreifen, doch er schaffte es nicht, die Initiative zu ergreifen, zu hastig und unvorhersehbar waren die Bewegungen. Dan hatte seinen Ellenbogen gerade in die Rippen des Marders gerammt, aber der trat ihm daraufhin so kräftig seitlich in die Kniekehle, dass der Dingo haltlos zusammensackte. Er schrie auf, als er auf der Kniescheibe landete, und fing sich daraufhin noch einen Schlag gegen die andere Lefze ein. Er sackte zusammen und musste sich mit den Pfoten abstützen. Blut tropfte auf den Steinboden neben ihm. „Haste's jetzt endlich begriffen?" keuchte Marcel. Er hielt sich einen Arm vor die Brust und spuckte auf Dan herab. Der schaute aus dem Augenwinkel an ihm vorbei auf und sah Kiddy mit der Bierflasche dastehen. Er spuckte Blut aus und stemmte sich hoch, zurück auf die Knie. „Nein!" schnaubte er. „Aber vielleicht können wir dir ja noch was beibringen. KIDDY JETZT!" schrie er. Marcel drehte sich um, aber genau damit hatte Dan gerechnet. Mit aller Kraft boxte der Dingo in dessen ungeschützten Schritt. Die dünne Sommerhose federte den Schlag so gut wie war nicht ab. Sofort krümmte sein Gegenüber sich zusammen und gluckste vor Schmerz. Gerade als er über den ersten Schock hinweg war und zu Dan aufsah, schlug Kiddy zu ... Ein schreckliches Geräusch. Es war gar nicht wie im Fernsehen, wo die Flaschen in 1000 kleine Brösel zerfielen, sie zerbrach gar nicht, dafür gab es einen brutal dumpfen Einschlag. Marcel wurde sofort bewusstlos und ging wie ein nasser Sack zu Boden. Blut quoll aus einer Platzwunde zwischen seinen Ohren. Zitternd ließ Kiddy die Flasche fallen. Das Entsetzen, über das, was er gerade getan hatte, brach über ihm zusammen. Fassungslos starrte er auf den reglos daliegenden Marder. „I ... ist er tot?" fragte er Dan, der sich mühselig hochrappelte. „Ummpff ... Mein Bein!" Der Dingo humpelte arg. „Nein, denke nicht. Los, wir hauen ab!" „Moment!" Kiddy griff die total zerdrückte Cornflakes-Packung. Die Milchtüte war geplatzt und ausgelaufen und das Nutella-Glas war an der Unterseite gesplittert, als es auf den Boden aufgeschlagen war, aber der Inhalt war größtenteils noch drin. „Ach, Scheiße!" fluchte Dan hinter ihm. Der Fuchs lies das Glas liegen und half stattdessen seinem Freund, der sich alleine kaum auf den Beinen halten konnte. Gemeinsam schafften sie die fehlenden 500 Meter zu dessen Wohnung. Während der ganzen Zeit gingen Kiddy immer wieder die schrecklichen Ereignisse durch den Kopf. Als er sich endlich zu Hause auf das Sofa fallen ließ, wurde er bleich und fing an zu zittern. Er stand offenbar unter Schock, davon hatte er schon gehört. Seine Gedanken waren schrecklich klar, konnten sich aber nicht von dem Anblick der Platzwunde auf dem Kopf des Marders lösen. Dan hatte sich derweil laut klappernd, fluchend und schwer humpelnd mit einem Lappen und einer Schüssel kaltem Wasser versorgt. Er legte sich den kalten Lappen um das Knie und erzählte Kiddy, dass er Marcel seit Jahren kannte, auch er sei aus dem Heim ausgebrochen. Immer mal wieder kam es zu Auseinandersetzungen zwischen ihnen beiden. Das letzte Mal hatte Dan ihm einen Fangzahn ausgeschlagen. Je älter sie wurden, erzählte er, umso deutlicher wuchs seine körperliche Überlegenheit gegenüber dem Marder. „Darum hat er sich wohl jetzt einen Komplizen mitgenommen. Weiß genau, dass ich ihm die Fresse polier', wenn er wieder allein' ankommt." Kiddy bekam die Erzählung nur wie durch einen Schleier mit, ihm war kalt und er konnte sich noch immer nicht richtig konzentrieren. Sehr langsam kam er wieder in der wirklichen Welt an. Dan kündigte gerade an, dass der Fuchs die nächstem Tage alleine für Geld und Essen sorgen müsse. „Mit dem Bein komm' ich nicht weit." „M-hm." Der Jüngere nickte. Was dies für ihn die nächste Zeit bedeuten würde, begriff er in diesem Moment noch nicht. Erst am Nachmittag, nachdem er einige Stunden auf verschiedene Sendungen und unzählige Werbespots gestarrt hatte, ohne deren Inhalt wahrzunehmen, bekam er Hunger und kehrte gedanklich in die Realität zurück. Dan schlief neben ihm auf der Couch, das lädierte Bein hatte er auf einem fleckigen Beanbag abgelegt. Kiddy machte sich eine Schüssel seiner eigenen Cornflakes. Die Tüte im Inneren der Packung war aufgeplatzt und der Inhalt hatte sich in der Pappe verteilt. Er musste darauf gestürzt sein. Erst jetzt erinnerte er sich an seinen Sturz. Er griff sich an die Schläfe und zuckte zurück. Es tat weh, aber stark geblutet hatte es wohl nicht. Der Badezimmerspiegel offenbarte eine kleine Platzwunde. Wahrscheinlich war es das Beste, wenn er den Tag abhakte und morgen mit Dan einen Plan aufstellte, wie es überhaupt weiterging. Er war dankbar, dass der Dingo ihn aufgenommen hatte, daher wollte er sich unbedingt revanchieren. Seine ersten beiden Tage alleine waren sowieso völlig anders verlaufen, als er gedacht hätte. Genaugenommen war er nicht mal richtig alleine. Er schaute sich den friedlich schlafenden Kaniden neben sich an. Dan hatte sich das T-Shirt und die Hose ausgezogen. Ganz zum Unbehagen des Fuchses trug er schon wieder nur noch seine Unterhose. Sein neuer Freund kam aus einer völlig anderen Welt, soviel war schon mal klar. Neugierig und skeptisch zugleich ließ Kiddy seinen Blick über die sich deutlich abzeichnende Beule in den Shorts des Dingos schweifen, wobei sich ein unangenehmes Kribbeln in seinem Kopf ausbreitete. Den Rest des Abends über wechselte Kiddy mehrfach den kühlenden Lappen auf dessen Knie, schaute weiter fern und malte sich aus, wie er selber zu kämpfen lernte, damit er sich das nächste Mal besser verteidigen könnte. Irgendwann fiel er in einen unruhigen Schlaf, in dem er von wirren Traumbildern heimgesucht wurde. Als er wieder aufwachte, lag er mit seinem Kopf in Dans Bauch gekuschelt. Beide waren nebeneinander eingeschlafen und zur Seite gesackt. Der Dingo lag hinter ihm und atmete in sein T-Shirt. Es fühlte sich zwar schön kuschelig an und hielt warm, aber Kiddy erhob sich hastig. Wie schwul sah das denn sonst aus? Auch Dan wurde langsam wach durch die plötzliche Kühle an seinem Bauch. Der Morgen offenbarte das komplette Ausmaß seiner Verletzungen. „Morgen," brummte er mit einer geschwollenen Lefze. Er hustete kräftig und setzte sich auf. Das Knie war dick und geschwollen. Der Dingo versuchte, es anzuwinkeln, brach aber nach ein paar Grad den Versuch mit schmerzverzerrtem Gesicht ab. „Scheiße, tut das weh! Dieser elende Arsch von Marcel, ich hoffe er verreckt, Alter!" Kiddy wurde schlagartig schlecht. Würde er an der Platzwunde sterben können? Hatte er etwa jemanden umgebracht? Er versuchte, den Gedanken zu verdrängen, stattdessen sah er sorgenvoll auf Dans Bein. „Du musst zu einem Arzt." „Zu einem Arzt? Neee, wenn die von mir wüssten, würden die mich wieder ins Heim stecken. Ich hab was Besseres. Gib mir mal den Zettel und Stift da ... und eine von den leeren Pfandflaschen da drüben." Kiddy tat, wie ihm geheißen und übergab beides. Zu seinem Entsetzen, streifte Dan sich ohne Scham die Unterhose herunter, drehte sich zur Seite und zog seine Felltasche ein Stück zurück. Als Kiddy die Spitze des roten Penis sah, schaute er schnell pietätvoll in die andere Richtung. Hinter ihm hörte er es plätschern. „Ahh. Das war nötig. Alles in Ordnung, Kiddy?" fragte Dan, während er ungeniert in die Flasche pinkelte. Kiddys Kopf fühlte sich an, als sei eine Wärmflasche darum gewickelt. „hm, ja, schon. Is' nur ..." „Was'n los?" Das Plätschern versiegte und Dan raschelte auf der Couch. Der junge Fuchs drehte sich wieder um. „Ich ... ich wollt' nicht hinsehen, sorry." Dan lachte. „Echt? Das' kein Problem. Ich hab Schlimmeres erlebt im Heim. Aber egal, ich werd demnächst einfach Bescheid geben, wenn ich weiß, dass es dir unangenehm ist. Nur ich kann grad nicht so oft aufstehen. „ Kiddy nickte zaghaft. Er kam sich komisch vor, er war unzufrieden mit sich selber. Es war ihm Dan gegenüber peinlich, dass es - nunja, ihm peinlich war, ihn nackt zu sehen. Das war so unreif. Dan unterbrach seine Besorgnis: „So und nu schau' mal hier." Er hatte seine Blöße wieder bedeckt und die Flasche neben die Couch gestellt. Nur der feuchte Fleck im Baumwollstoff zeugte noch von der ungewöhnlichen Erleichterung. Sein Freund vermied es krampfhaft, dort hinzuschauen, stattdessen konzentrierte er sich auf den Zettel, auf dem Dan eifrig herumkritzelte. Die Handschrift war schlecht und das Wort ‚Bäcker' hatte er mit ‚e' geschrieben, aber im Großen und Ganzen war es lesbar.. Kiddy vermutete, dass die Schulbildung bei Dans Lebensstil zu großen Teilen auf der Strecke geblieben war. „Da bekommen wir Brötchen und da ..." er kritzelte weiter „... ist ein Arzt für Haustiere. Der hat mir schon Mal geholfen. Frag' doch da mal bitte, ob er sich mein Bein angucken kann." Unsicher hielt Kiddy den Zettel in der Pfote. Dan meinte, er würde bestimmt mehrere Tage nicht richtig laufen können. Bis dahin sollte der Fuchs sich um die alltäglichen Themen, wie Geld besorgen oder Einkäufe kümmern. „Uhm, okay," stimmte dieser zu. Der Gedanke, alleine für alles verantwortlich zu sein gefiel ihm gar nicht, immerhin war dies eine fremde Stadt und da draußen rannten zwei Gestalten rum, die ihm ans Leder wollten. Allerdings hatte Dan ihn so uneigennützig aufgenommen, dass es nur fair schien, sich nun zu revanchieren. Kiddy willigte ein, doch schon zehn Minuten später bereute er es. Er fand den Bäcker, der ihnen die Brötchen vom Vortag geben sollte einfach nicht. Dan hatte ihm zwar eine recht gute Wegbeschreibung mitgegeben, aber als er kurz darauf in den endlos wirkenden Straßenschluchten stand, schien sie kaum etwas Wert zu sein. Also kaufte er kurzerhand frische Brötchen von seinem Geld und kehrte nach einer Stunde zurück. Auch den Arzt hatte er nicht gefunden. Dan lachte, doch da das Knie des Dingos zum Nachmittag hin unter dem Fell lila-blau verfärbt hatte, unternahm Kiddy einen erneuten Versuch. Für den jungen Fuchs war es unverständlich, wie so viele Leute auf einem Haufen zusammenwohnen konnten. Die Massen bedrängten ihn förmlich. Auch die Straßen waren wesentlich breiter, als in dem Ort, in dem er aufgewachsen war. Bisher hatte er immer nur kurze Stippvisiten in mittelgroße Städte unternommen und die meiste Zeit davon hatte er bei seinen Eltern im Auto gesessen. Jetzt war er Fußgänger, musste Ampeln überqueren, die gleich an drei Anzeigen rot oder grün einblendeten. Als sich durch die vielen Leute um ihn herum ein Gefühl der Beklemmung breitmachte, atmete er mehrere Male tief durch. Schließlich fand er die auf dem Zettel beschriebene Ladenpassage und kurz darauf auch den Tierarzt, der sein Flachdachgebäude direkt daneben hatte. Es roch nach Sterilisierungsmitteln und den Duftmarken aller möglicher feralen Spezies, die im Wartezimmer an Leinen oder in Käfigen auf ihre Behandlung warteten. Kiddy nutzte einen günstigen Moment, als der Arzt über den Flur ging, um ihn anzusprechen. Der alte Dachs war sehr nett und schien sich auch sofort an Dan zu erinnern. „Ach ja, der Straßenwelpe, dem ich mal die Pfote verbunden habe. Ich komme nach Praxisschluss zu Euch. So lange soll er das Knie kühlen und nicht bewegen. Hier." Er gab Kiddy ein ‚Cool Pack'. „Das hält, bis ich bei euch bin. Jetzt muss ich erstmal weitermachen." Wieder zu Hause erzählte der Fuchs stolz von seinem Erfolg. Dan schickte ihn prompt zum Laden, er sollte etwas mitbringen, um es dem Dachs zu geben, ein ‚kleines Dankeschön', wie er es nannte. Leider fiel es Kiddy sehr schwer, eine sinnvolle Auswahl zu treffen. Was schenkte man einem alten Dachs als Dankeschön? Waren Süßigkeiten angebracht, Pralinen? Wein oder Alkohol durfte er nicht kaufen und er hätte eh nicht gewusst, worauf er da hätte achten müssen. Am Ende entschied er sich - nicht zuletzt, da er selber großen Hunger hatte - für eine Tüte Keksmischung, die er auf den Wohnzimmertisch stellen wollte und eine Packung Mercí. Am frühen Abend klopfte es. Der Alte ging direkt ans Werk und untersuchte Dan. Kiddy versank derweil in seine eigenen Gedanken. Er knabberte Kekse und dachte daran, was seine Eltern wohl gerade machten. Vermissten sie ihn? Das bestimmt. Vielleicht suchten sie auch nach ihm?! Sollte er ihnen nicht besser ein Lebenszeichen setzen? Er bekam jedoch Angst, als er sich das unangenehme Telefonat ausmalte, was ihm bevorstand. Würden sie die Polizei gerufen haben? Würde sein Anruf womöglich zurückverfolgt werden? Wo könnte er überhaupt telefonieren; Dan schien kein Telefon zu besitzen. Viele Unbekannte für den jungen Fuchs. Das geringere Übel war, den Anruf nicht zu tätigen, einfach weiter zu machen, wie die Tage zuvor. Auch wenn sein Gewissen sich nun in immer kleiner werdenden Abständen meldete. Dan fiepte neben ihm auf. Der Dachs hatte ihm in der Zwischenzeit einen Verband angelegt und offenbar eine schmerzende Stelle berührt. Kiddy konzentrierte sich auf die Geschehnisse im Raum und seine Sorgen waren wieder ein Mal verdrängt. Er knabberte noch einen Keks, bis der Arzt sich an ihn wandte. „Gebrochen ist nichts, wie's scheint, nur geprellt. Lass ihn eine Woche lang so wenig wie möglich aufstehen. Die Schwellung sollte in der Zeit zurückgehen und der Schmerz weniger werden." Kiddy nickte. Er fühlte sich wichtig, da der Dachs nur mit ihm sprach und nicht mit dem Dingo. „Nach dieser Woche soll er das Bein wieder mehr belasten, es sollte sich dann alles von alleine einlaufen." Kiddy versprach, auf die Anweisungen zu achten und der Alte verabschiedete sich. Den Rest des Abends über besprachen die beiden, wie die nächsten Tage ablaufen würden. Dan wollte am Liebsten alles alleine machen, aber sein Fuchsfreund erinnerte ihn immer wieder an die Anweisung des Arztes. Irgendwann fügte Dan sich in sein Schicksal. Er stimmte zu, Kiddy alle Besorgungen machen zu lassen. Der fühlte sich stolz und sah dem kommenden Tag voller Zuversicht entgegen. Endlich konnte er sich beweisen, nützlich machen. Er würde seinen neuen Freund bestimmt nicht enttäuschen. Irgendwann fiel er trotz seines Eifers in einen tiefen Schlaf. Gleich am nächsten Morgen nutzte er seine Chance. Er stand vor Dan auf und bereitete beiden Müsli zu. Er weckte den Dingo, als alles komplett fertig auf dem Tisch stand. Es war zwar ‚schon wieder nur Müsli', wie es Kiddy vorkam, aber mit etwas frischem Apfel und O-Saft sah das Tablett gleich viel appetitlicher aus. Am Vormittag ging er auf Dans Empfehlung hin ein Stück die Straße herunter und stellte sich mit Eimer und Wischer an eine große Kreuzung. Sein Freund hatte ihm zwar erklärt, wie er sich verhalten sollte, aber einfach war es für den unerfahrenen Fuchs nicht. Die ersten zwei Ampelphasen traute er sich nicht, zu einem Auto zu gehen, aber während der Dritten wischte er - eher schlecht, als Recht, wie er sich selber eingestehen musste - einem Kleinwagen die Scheiben und bekam sogar 50 Cent dafür. Mit jeder weiteren Ampelphase und jedem weiteren Auto wuchs sein Selbstvertrauen. Nach einer Stunde ging er schon wie selbstverständlich durch die wartenden Fahrzeuge hindurch und suchte sich diejenigen aus, deren Fahrer er glaubte, einschätzen zu können. Dickhäuter wie Nashörner oder Büffel waren in der Regel grimmiger; junge Mütter, ob nun Nager, Felide oder Kanide waren, wie er feststellen musste, recht spendabel. Eine steckte ihm ganze zwei Euro zu, sein persönlicher Rekord. Jedoch gab noch lange nicht jeder ihm Geld für seine ungefragten Dienste. Nach etwa 2 Stunden Autoscheibenputzen waren knapp 30€ zusammengekommen. In der dritten Stunde wollte Kiddy noch einen Zahn zulegen und die 50€ knacken. Als er gerade von einer kleinen Verschnaufpause aufstand und seinen Wischer griff, weil die Ampel gelb wurde, hielt ein Polizeiwagen in der ersten Reihe. Der junge Fuchs hatte in Gedanken geschwelgt und auf den Boden der Verkehrsinsel geschaut, so hatte er ihn nicht kommen gesehen. Er fror mitten in der Bewegung ein. Die beiden Beamten sahen ihm in die Augen. ‚Die suchen nach dir. Es ist gelaufen', ging es Kiddy durch den Kopf. Der Fahrer, ein Gepard winkte ihn heran. Kiddy steckte seinen Wischer in den Eimer und schritt mit weichen Beinen auf den blau-silbernen Mercedes zu. „Na, kleiner. Taschengeld etwas aufbessern?" fragte der schwarz gefleckte Kater ihn mit sicherer Stimme. „M-hm," gab Kiddy unsicher zurück. „Ja." „Bischen gefährlich hier im Verkehr." Der Beifahrer hatte geantwortet, ein grimmiger Braunbär, der kaum in seinen Sitz zu passen schien. Er drückte auf einen Knopf im Armaturenbrett und das Blaulicht fing an zu blinken. Kiddy zuckte zusammen, rührte sich dann aber keinen Millimeter mehr. In ihm kribbelte es, sein Herz sank ihm in die Hose und er war sicher, dass seine Pfoten sichtbar zitterten, so angespannt wurde er. „Wohnst du hier in der Nähe?" fragte der Gepard. „J - ja." Kiddy fiel das Sprechen schwer, seine Zunge gehorchte ihm nicht so recht und in seiner Schnauze fühlte sich alles trocken und dick und ledrig an. Er hob seinen Finger und deutete mit einer Kralle die Straße entlang in die Richtung, aus der er gekommen war. „200 Meter von hier." Die Autos stauten sich hinter dem Polizeiauto und wichen, eines nach dem Anderen auf die zweite Fahrspur aus. Der Gepard sprach weiter mit Kiddy. „Pack mal deinen Krams zusammen und such dir eine ungefährlichere Methode." Er deutete auf den Eimer mit Wischwasser und dann mit dem Daumen hinter sich auf die Straße. „Aber turn' hier nicht im Verkehr rum, das ist verboten." „Ja, Herr Wachtmeister." Er klang zwar ziemlich gestelzt, aber etwas Besseres fiel den überforderten Fuchs im Moment nicht ein. Die Augen des Gepards blickten fest und tief in seine, als er fortfuhr. „Wenn wir also gleich zurückkommen, finden wir dich nicht mehr hier, richtig?" „Richtig." Kiddy drehte sich schnell um und hob den Eimer auf. ‚Nur schnell weg hier' war sein Plan. Er hatte gerade erst einen Schritt gemach, da hörte er die Stimme des Braunbären, der ihn im tiefsten Bariton rief. „Halt!" Kiddy zitterte sofort, diesmal mussten die beiden seine Aufgeregtheit einfach sehen, kein Zweifel. Hatte der Bär ihn etwa erkannt? Gab es vielleicht sogar schon einen Steckbrief? Was war Hollywood und was war real; der Fuchs wusste es nicht. Seine Erfahrung mit echter Polizeiarbeit ging gegen Null. Mit klopfendem Herz in der Brust drehte er sich um. „Nimm deinen ganzen Kram mit, das hier ist keine Müllkippe." Er deutete auf seine zwei Lappen zum Trockenwischen, die auf dem Rasen der Verkehrsinsel lagen, wo Kiddy eben noch gesessen hatte. „M-hm." Hastig nahm er sie auf und stapfte über die grüne Fußgängerampel davon. Als diese auf halber Höhe der Strecke auf Rot sprang, meldete sich ein letztes Mal sein Unbehagen, aber die Polizisten machten im selben Moment ihr Blaulicht aus und fuhren während der Grünphase ganz normal los. Kiddy setzte sich auf einen Sims und atmete erstmal einige Minuten kräftig durch. Geld verdienen war doch nicht ganz so einfach. Für heute reichte es ihm, er fühlte sich hundeelend, die Aufregung war zu viel für ihn. Sein Magen war verkrampft und sein Kopf brummte förmlich. Dan lachte, als Kiddy ihm die ganze Geschichte erzählt hatte. „Oh Mann, klingt ja geil! Ruft der dich zurück, um die Lappen mitzunehmen." Er gackerte. „Lass gut sein für heute, am Wochenende gehen wir noch mal los." „Ich geh los," widersprach Kiddy. „Du bleibst hier." „Ja-jaa. Oder so." Dan grummelte ein wenig, es widerstrebte ihm sichtlich, so inaktiv zu sein. Wahrscheinlich, so dachte Kiddy, kannte er sein Leben lang nichts anderes, als für sich selber zu sorgen. „Lass mich das mal erledigen. Wenn du wieder fit bist, dann kannst du mir alles zeigen." „Einverstanden. Ich habe auch noch einiges für dich zu tun."

Teil 3: Zwischenfall

Als wäre ein Knoten geplatzt, lief die nächsten Tage alles besser. Kiddy wurde selbstsicher und lernte die Umgebung kennen. Er fand endlich den Bäcker, holte am zweiten Tag beim Großhändler aussortierte Lebensmittel ab und suchte sich eigenständig eine neue Kreuzung, eine kleinere, an der er durch eine Litfaßsäule besser sichtgeschützt war. Die Zahl der Fahrzeuge, die er schaffte, war dort zwar eher mager, da auf der einspurigen Nebenstraße schlichtweg weniger los war, aber der Erfolg dafür umso größer: Dadurch, dass er sich länger und konzentrierter um Autos und Fahrer kümmerte, zahlte ihm nun jeder gerne einen kleinen Obolus. Gleichzeitig vermied der junge Fuchs es, teure oder unnütze Lebensmittel zu kaufen. Er verglich solche Dinge wie Kilopreise und rechnete sich aus, wie oft er aus diesem oder jenem Lebensmittel wohl eine sättigende Mahlzeit bekäme. Nicht selten fiel ihm in solchen Momenten seine Mutter ein, mit der er mehr als ein Mal im Laden diskutiert hatte, weil er sich etwas gewünscht, sie aber abgelehnt hatte mit Argumenten, wie ‚das ist doch viel zu teuer' oder ‚das lohnt sich doch gar nicht, dafür Geld auszugeben'. Dan lobte ihn an den Abenden, als er sah, wie schnell Kiddy sich in der neuen Situation zurechtfand. Aber wenn der Dingo dann in seinem Schlafzimmer verschwunden war, meldete sich das schlechte Gewissen gegenüber seinen Eltern immer stärker. Bisher verdrängte er es erfolgreich. Es war der Mittwoch, der eine unangenehme Überraschung bereithielt. Dabei fing der Tag gut an, die Sonne kitzelte den jungen Fuchs wach. Er lag ausgestreckt auf der Couch und hatte in den letzten Minuten offensichtlich zufrieden in sein Kissen gesabbert. Als er die Augen aufschlug, humpelte Dan gerade vom Klo zurück und legte sich ohne ein Wort zu sagen wieder hin. Vermutlich hatte er nicht mitbekommen, dass Kiddy ebenfalls aufgewacht war. Der blieb noch eine Weile liegen, bis der Dingo hinter seinem Vorhang wieder leise war. Er wollte nicht den Anschein erwecken, als sei dessen Aufstehen der Grund dafür, dass er nicht weiterschlief. Dans Bein wurde mit jedem Tag besser, aber wenigstens diese Woche noch wollte Kiddy durchhalten und ‚seinem Patienten', wie er den Wüstenhund in seinen Gedanken nannte, alle nur erdenklichen Wege abnehmen. Gestern Abend war er sogar über seinen eigenen Schatten gesprungen und hatte die Pinkelflasche geleert, die Dan manchmal benutzte. Das tat er zwar heimlich, weil er inzwischen wusste, dass der Fuchs damit ein gewisses Problem hatte, aber durch den Vorhang hatte der es manchmal plätschern gehört. Weil er sich so wohl bei seinem Freund fühlte, wollte er ihm zum Einen damit ein Zeichen setzen, dass er lockerer wurde, zum Anderen für sich etwas von dieser unbeschwerten Art mitnehmen, mit der Dan in den Alltag hineinging. Und das betraf nicht nur das Schamgefühl, sich vor seinem Freund umzuziehen (was ja unter Jungs eigentlich kein großes Thema sein sollte). Vielmehr war es auch die Leichtigkeit, mit der Dan sein Leben gestaltet hatte. Ohne großen Reichtum zu erwirtschaften, ohne erwachsen zu sein und ohne auf dem Radar der Behörden zu erscheinen, hatte er alles erreicht, um für sich ein unabhängiges Leben zu führen. Sicherlich, es halfen viele Leute mit, die er im Laufe der Jahre kennengelernt hatte. Aber letztendlich war auch das seiner Art, mit anderen Furs umzugehen, zu verdanken, oder nicht? Bei der Versorgung mit Lebensmitteln und dem Befolgen von Dans Anweisungen blieb Kiddy nicht viel Spielraum, daher hatte er an anderer Stelle an sich gearbeitet. Nicht nur die Flasche zu leeren hatte er sich getraut, gestern war er - nach langem Ringen mit seiner Überwindung - sogar in Unterhosen aufgestanden. Es war ein aufregender Moment gewesen. Zuerst fühlte es sich falsch an. Noch nie, außer in der Umkleide beim Sport, hatte er seine Hose vor einem Freund ausgezogen. Selbst bei Übernachtungsbesuch tat er das stets unter der Decke. Es fielen in der Schule einfach zu viele Sprüche, Spezies-Lästereien und regelrechte Gemeinheiten, daher hatte Kiddy sich stets so bedeckt wie möglich gehalten. Die ruhige Atmosphäre hier, zu zweit war zwar ungestörter, aber auch um Einiges intimer, als in dem sterilen Umkleideraum der Schule. Das machte es dem jungen Fuchs schwierig, es war ungewohnt, wie aufregend zugleich. Seine Felltasche hatte zu spannen angefangen, als er mit nackten Beinen zum Klo gegangen war. Sein Kopf war heiß, die Pfoten zitterten und sein ganzer Unterleib hatte gekribbelt. Kiddy erinnerte sich zurück. Dies Kribbeln, es war das gleiche Gefühl, das er sonst nur hatte, wenn er sich selber ... Nein, das war absurd! Das war etwas völlig Anderes. Warum sollte sich das ähneln? Als er im Bad fertig war, hatte er sich gründlich trockengetupft. Auf jeden Fall hatte er einen feuchten Fleck vermeiden wollen, wenn er schon nur in Unterhose bekleidet auch zurück gemusst hatte. So zügig und unauffällig wie möglich war er zum Sofa geflitzt und in seine Hose geschlüpft. Kaum hatte er sie an den Beinen, war ihm wohler. Wie absurd, in Badehose fühlte er sich doch auch nicht nackt, warum also hier? Mit der Zeit würde er schon etwas lockerer werden. Ganz zu seiner Enttäuschung hatte Dan die Situation weit weniger gewürdigt, als er gehofft hatte. Kiddys Herz hatte gerast, aber für ihn selber war nur eines wichtig: Er hatte sich getraut! Um auf andere Gedanken zu kommen, drehte er sich auf den Rücken und plante den Tag. Er würde heute mal kein Geld verdienen, dafür aber ausgeben. Bei seinem gestrigen Streifzug um den Block hatte er eine Einkaufsstraße gesehen. Sobald das Frühstück hinter ihnen liegen würde, wollte er sich dort mal umsehen. Dan hatte keine außergewöhnlichen Aufgaben für ihn, daher ließ Kiddy sich Zeit und startete ganz gemütlich um kurz vor 9 Uhr zum Bäcker. Als er dort ankam, hatte der nette Löwe ihnen bereits eine Tüte mit nicht verkauften Brötchen zusammengestellt. Sie war so groß, dass bequem sechs Furs davon hätten satt werden können. „Ich schmeiß' sie eh nur weg, ist Vorschrift," erklärte er sich. Kiddy nickte und bedankte sich. Dann überquerte er den Bahnhofsplatz und hielt schnurstracks auf die Straße zu, wo benannte Einkaufsmeile begann. Die meisten Läden öffneten gerade erst. Eine Schuhgeschäft-Verkäuferin zog polternd die Rollläden hoch und eine füllige Nilpferddame stellte alle möglichen Aufsteller mit geflochtenen Korbfigürchen vor ihren Afrikashop. Noch waren wenig Leute unterwegs, aber der junge Fuchs stellte sich vor, wie im Laufe des Tages hier das Leben tobte. Nach nur hundert Metern war er bereits an sechs Läden unterschiedlichster Natur vorbeigegangen, als er unvermittelt stehen blieb. Er hatte einen Spezies-Shop auf der gegenüberliegenden Seite ausgemacht. Diese meist kleinen Läden gab es bei ihm im Dorf nicht, nur in den größeren Nachbarstädten. Jeder Spezies-Shop bot seiner Erfahrung nach stets auf die Zielgruppe angepasste Produkte: Fellpflegeutensilien, Alltagsgegenstände, Delikatessen, Kuriositäten und Kunst, von Feral bis Anthro. Kiddy wechselte die Straßenseite. Zumindest versuchte er es. Der Verkehr hier war um Einiges belebter und die Straßen breiter als in dem Dorf, in dem er aufgewachsen war. Er traute sich nicht, wie viele andere Stadtfurs, einfach durch die schnell fahrenden Autos hindurchzuschlüpfen. Geduldig wartete er am Straßenrand, bis sich eine wirklich große Lücke auftat. Erst dann flitzte er über den grauen Asphalt. ‚Harry's Kanidenladen' war klein und vollgestopft mit allem möglichen Tinnef, der in irgendeiner Weise mit der Spezies zu tun hatte. Ein heruntergekommener, älterer Grauwolf lehnte auf einem Holztresen und musterte ihn feindselig. Vermutlich erwartete er, dass ein junger Fuchs wie er in seinem Laden nur Aufwand bedeutete, nicht aber Umsatz. Oder war er vielleicht neidisch auf seine Jugend? Kiddy ignorierte den stechenden Blick so gut er konnte und schlenderte an den Auslagen vorbei. Wie vermutet gab es eine große Sektion für Fellpflege, ein Kitschregal stand voll mit unzähligen Alltagsgegenständen. Es gab Aschenbecher in Pfotenform sowie Feuerzeuge und Tassen mit aufgedruckten Wolfs- Fuchs- und Huskymotiven. Im Kosmetikregal lagen Krallenschärfer, absurderweise direkt neben den Krallenstutzern und an der Außenwand standen kanidische Duftstoffe zum Verführen von Weibchen. Es gab Lupinen oder Vulpinen, ja sogar Hyänen und ... Kiddy musste schmunzeln ... Dingos. Er legte die Bäckereitüte in die Beuge seines linken Arms, nahm das Fläschchen hoch, drehte es in der Pfote und stellte es wieder zurück. ‚So'n Blödsinn', dachte er amüsiert, dann bummelte er weiter. In der hinteren Ecke fand er etwas Interessantes: kanidische Sonnenbrillen. Er probierte eine auf. Sie saß gut, genau an seine lange Nase angepasst. Die erste Brille schob er auf den Kopf und setzte eine Zweite auf. Auch sie passte. Als er kurze Zeit später alle durchprobiert hatte, kam ihm eine Idee: So eine könnte er doch Dan mitbringen. Der Dingo hatte - genau wie er - heftig die Augen zusammengekniffen, als sie an ihrem ersten Tag zusammen auf dem Straßenfest gewesen waren. Außerdem wäre es ein kleines Dankeschön dafür, dass er Kiddy bei sich aufgenommen hatte. Eine kleine Aufmerksamkeit quasi. Er schaute auf das Preisetikett: 19,95€. ‚Muss ich noch Geld holen', dachte er bei sich, aber sein Entschluss stand fest. 40€ waren in seiner momentanen Lage zwar viel Geld, aber diese Summe wollte er für sich und Dan gerne ausgeben. Gedankenversunken bummelte er noch die übrigen Regale ab, aber die weiter vorne angebotenen Spezialitäten waren überhaupt nichts für ihn. Die harten Fleischsticks zum Beispiel, auf denen bevorzugt ältere Kaniden stundenlang herumkauten, bis der ganze Raum danach roch, fand er einfach nur ekelhaft. Das war für ihn genau so eine nicht nachvollziehbare Unart, wie Rauchen oder Kautabak. ‚Nach dem Frühstück komm' ich mit genug Geld wieder', entschied Kiddy. Zielgerichtet hielt er auf den Ausgang zu. „Hee, zahlst du das auch?" bollerte die tiefe Stimme des Ladenbesitzers ihn an. Erschrocken drehte Kiddy sich noch im Gehen um. Die Miene des Wolfes war finster. Er starrte ihn bedrohlich an. Als er sich dann auch noch erhob, bekam der junge Fuchs Panik. „Bleib stehen, ich lass mich doch nicht beklauen von so einem Bengel!" Energisch, aber mit sichtbarer Mühe erhob er sich und ging um den Tresen. Kiddy starrte auf seine Brötchentüte. „Das sind meine, die hatte ich dabei," verteidigte er sich kleinlaut. Er hatte einfach keine Ahnung, was der Alte von ihm wollte, nur, dass er ihm Angst machte, wusste er mit Bestimmtheit. Der Fuchs tat einen unsicheren Schritt nach hinten und dann noch einen. Er trat dabei gegen das Rollbein eines Aufstellers, an dem allerhand Ketten, Ringe und Broschen hingen. Mit verheerenden Folgen. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte hintenüber. Die Brötchentüte flog ihm aus den Pfoten und rutschte unter eines der Regale. Mit rudernden Armen blieb sein Shirt an einem der rausragenden Haken des Aufstellers hängen und riss ihn um. Alles um ihn herum schepperte, rasselte und klingelte. Er hatte es noch geschafft, sich bei seinem Sturz seitlich zu drehen, um sich aufzustützen, aber das Metallgerüst und die gesamte Ware darauf fielen auf ihn. Er hörte die Stimme des Wolfes, der sich lauthals beschwerte, konnte in all dem Chaos jedoch die Worte nicht verstehen. Etwas bohrte sich schmerzhaft in seinen Rücken und seine rechte Flanke, aber das beachtete er nicht weiter. Er schaute auf und sah den Ladenbesitzer nur zwei Meter von ihm weg. Der Wolf hatte den Tresen hinter sich gelassen und quetschte sich durch eine Lücke zwischen zwei Regalen hindurch, genau auf ihn zu. Kiddy wollte nur noch weg. Er war völlig überfordert. Der Laden war ein einziges Durcheinander und was passieren würde, wenn der Alte ihn packte, wollte er gar nicht erst wissen. Er tat das Einzige, was ihm noch blieb: Er stieß sich hoch und rannte los. Wieder schepperte und klimperte es, als er sich unter dem Aufsteller herausdrückte und dieser endgültig auf den Boden prallte. Seinem T-Shirt riss mit einem hässlich lang gestreckten Geräusch der Ärmel auf. Noch mehr Ringe flogen durch die Gegend, aber Kiddy war bereits bei der Tür. Unweit von sich sah er die geplatzte Brötchentüte, ihm blieb jedoch keine Zeit sie aufzuheben. Hinter ihm fluchte der Wolf und rief ihm zu, stehen zu bleiben. Er ignorierte die wütenden Rufe, stattdessen rannte Kiddy quer über die Straße. Ein Auto hupte und Reifen quietschten. Gerade noch sah er die metallic-blaue Motorhaube, dann stieß etwas gegen seinen Oberschenkel. Der Aufprall war nicht sonderlich hart aber er genügte, um ihn erneut ins Straucheln zu bringen. Und dann bemerkte er sie. Just als er seine Schritte wieder im Griff hatte (er hatte sich mit schürfenden Pfotenballen am Asphalt abstützen müssen, um nicht erneut zu stürzen) und auch den schimpfenden Autofahrer hinter sich ließ, rutschte ihm die vergessene Sonnenbrille vom Kopf und plumpste auf seine Nase. Hals über Kopf bog er in eine Seitengasse und lief und lief. Er rannte so lange weiter, bis sein ganzer Brustkorb ihm wehtat. Völlig außer Atem bog er schließlich in einen kleinen Parkabschnitt und ließ sich gegen einen Kastanienstamm sinken. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich seine Atmung normalisierte. Der Rücken schmerzte ihn, seine Pfotenballen waren wund aufgeschürft. Bisher hatte er die Welt um sich herum ausgeblendet, er war einem Tunnelblick gefolgt, der ihm jeweils nur die nächste Etappe seiner wilden Flucht gezeigt hatte. Seine Rechte brannte ihm, er pflückte einige Steinchen aus den schwarzen Erhebungen. Er blutete nur leicht, nicht der Rede wert. Je ruhiger sein Puls wurde, umso mehr nahm der verzweifelte Jungfuchs wieder von seiner Umgebung wahr. Er nahm die Sonnenbrille ab und drehte sie in der heilen Pfote. Das war also der Grund, warum der Wolf versucht hatte, ihn aufzuhalten, mehr nicht. Kiddy untersuchte die Brille, er drückte und befühlte die Bügel. Sie waren zwar fest, saßen aber so bequem, dass er sie beim Verlassen des Geschäfts gar nicht bemerkt hatte. Er war also tatsächlich Schuldig! Vor seinem geistigen Auge sah er die zerrissene Brötchentüte und dann das Chaos, das er im Laden angerichtet hatte, ein zweites Mal. Wie sollte er das nur Dan erklären? Kiddy bekam Angst. Er begann zu zittern. Würde der Wolf die Polizei rufen? Er hatte bei ihm ziemlich viel kaputt gemacht ... und er hatte geklaut! Entsetzt starrte er auf die Brille. Das alles hatte er nicht gewollt, wie konnte es nur so weit kommen? Warum konnte er nicht einfach die Zeit zurückdrehen und sich anders verhalten? Warum? Heute Morgen noch schien es so eine schöne Idee, ein Geschenk für Dan zu kaufen ... und jetzt? ‚Ich habe noch nie etwas geklaut', dachte Kiddy. Seine Pfoten zitterten heftig. Je länger er sich ausmalte, was jetzt alles passieren würde, umso schlimmer wurden die Szenarien in seinem Kopf. Es war wie ein Strudel, bestehend aus negativen Gedanken, der sich immer schneller drehte und allmählich ausbreitete. Am liebsten hätte er Dan um Rat gefragt, aber er schämte sich zu sehr. Kiddy hatte seinen Freund enttäuscht. So eine einfache Aufgabe, wie Brötchen zu holen, hatte er vermasselt! Seine Lefzen bebten, als er sich ausmalte, was als Nächstes passierte. Der Dingo würde ihn mit Sicherheit von jetzt an hassen! Das unbehagliche Gefühl verstärkte sich. Wieso gab es niemanden, der für ihn da war? Normalerweise hatte er in wirklich schwierigen Zeiten stets seine Eltern gehabt, an die er sich hatte wenden können - Streits hin oder her! Diese Option war ihm jetzt verwehrt. Er fühlte sich sehr alleine. Der Strudel gewann an Kraft. Er hatte doch nur etwas Schönes kaufen wollen, das konnte doch nicht so extrem schief gehen?! Kiddy kämpfte gegen die Tränen. Es gelang ihm, sie zurückzuhalten, solange er sich nur darauf konzentrierte, als er jedoch nur Sekunden später überlegte, wie es von nun an weitergehen sollte, konnte er nicht mehr an sich halten. Heiße, dicke Tropfen sammelten sich in seinen Augen und rannen sein Gesicht herab. Er wischte die nicht weg, zu tief war er in sich gekehrt. Stattdessen vergrub er seinen Kopf in den Armen und begann zu weinen. Eines schien ihm ganz klar, Dan würde er sich so nicht stellen können, die Schmach wäre einfach zu groß für ihn. Sein Dingofreund hatte stets seine Welt im Griff und er, der kleine, unerfahrene Fuchs, scheiterte schon beim Brötchenholen? Er schluchzte laut auf. Vermutlich hatte er nichts Besseres verdient! Der Sog aus negativen Gedanken hatte sich derweil sein schlechtes Gewissen einverleibt und verschlang nun Stück für Stück Kiddys Selbstantrieb. Eine ganze Weile konnte er nichts anderes tun, als zu weinen. Sein Armfell war bereits hoffnungslos durchnässt und klebte ihm auf der Haut. Und sein Körper meldete sich: Wie wilde Flucht lag nun schon eine Weile hinter ihm und sein Adrenalinspiegel sank auf ein normales Niveau, daher bemerkte er die Schmerzen in seinem Bein jetzt erst. Er besah sich mit verheulten Augen die Stelle, an der sogar etwas Fell fehlte. Als er nur die Haare darum berührte, tat es bereits weh und er sog zischend Luft zwischen den Fangzähnen hindurch. Eine tiefe Schramme war zu sehen, die jedoch nur kurz geblutet hatte, sowie ein angehender blauer Fleck drum herum. Die Verletzung, die dünne Blutkruste im Fell und sein schmerzender Rücken vergrößerten sein Leid nur noch mehr. Der düstere Tornado leistete ganze Arbeit, sämtliche Hoffnung schien endgültig weggefegt. Was zurückblieb war tiefe Hoffnungslosigkeit, das Gefühl allein zu sein und verlassen. Es gab keinen Ort, an den er noch hingehörte. Er verwischte die Tränen. Und jetzt? Vor seinem inneren Auge malte er sich alle möglichen schrecklichen Dinge aus. Die Welt schien plötzlich sehr groß und feindselig; wo sollte er hin, wo würde er wohnen? Totale Verzweiflung füllte die vom Sturm frei gefegten Flächen in seinem Kopf. Kiddy gab sich ihr hin. Wie lange er so dasaß, wusste er nicht, Zeit nahm er nicht mehr wahr. Wenn er den Kopf nicht auf den Armen liegen hatte, starrte er mit leerem Blick auf den Boden vor sich. Dort wuselten allerlei Insekten, einige krabbelten ihm sogar über die Füße, robbten über seine Krallen oder machten sich auf den beschwerlichen Aufstieg durch sein Wadenfell, wo er sie schließlich abschüttelte. Kiddy wusste gar nichts mehr, Dan hatte ihm aufgezeigt, was er alles brauchen würde, um ein Leben alleine zu führen und es war mehr - viel mehr - dazu nötig, als er sich selber vorgestellt hatte. Zu Beginn seines Abenteuers war er so euphorisch gestartet, als er weggelaufen war, hatte er über keinerlei Details nachgedacht, es wäre schon ‚alles irgendwie' gegangen, da war er sich damals sicher gewesen, aber jetzt? Das würde er nicht schaffen! Er wusste ja nicht mal, wo er für heute Abend hinsollte. Wie lange würde sein Geld reichen, sein Essen? Vielleicht, so kam es ihm in den Sinn, sollte er sich doch selber bei der Polizei stellen? Das erschien ihm wie der leichteste Ausweg. Aber auch der Gedanke machte ihm eine Heidenangst; was wäre dann? Würde er für das Zerstören der Ladeneinrichtung nicht bezahlen müssen? Oder, wenn er nicht zahlen konnte, vielleicht sogar ins Gefängnis kommen? Wie absurd und übertrieben seine eigenen Gedanken waren, merkte der verzweifelte Fuchs nicht, genauso wenig wie die aufkommende Kühle und den Wind. In der vergangenen halben Stunde hatte sich der Himmel mehr und mehr zugezogen. Da Kiddy im Schatten der Kastanie saß, war ihm das Fehlen der Sommersonne nicht aufgefallen. Die Blätter über ihm raschelten, als sich das Wärmegewitter immer weiter zusammenbraute, in der oberen Atmosphäre prallten heiße und kalte Luft aufeinander und sammelten ihre Kräfte für den bevorstehenden Kampf gegeneinander. Mit glasigem Blick knibbelte der Fuchs gerade an den Krallen seiner linken Pfote, als ihm ein dicker Tropfen auf den Kopf fiel. Ein Ohr zuckte, als es Spritzer davon abbekam, dann stellten sich beide Ohren auf. Ein zweiter Tropfen erwischte ihn auf der Nase. Kiddy erwachte aus seiner In-sichGekehrtheit. Er wischte die Feuchtigkeit beiseite und sah sich um. Dicke Tropfen fielen auf den Rasen, kaum ein Fur war noch zu sehen. Die Wenigen, die noch unterwegs waren, rannten, um möglichst schnell einen Unterstand zu finden. Der Himmel war grau, nein, dunkelgrau. Und - wie um die Bedrohlichkeit absichtlich noch zu steigern - donnerte es das erste Mal tief und laut. Das Geräusch genügte, um ihm endgültig aufschrecken zu lassen. ‚Ich muss hier weg', dachte er, denn bei Gewitter, das wusste er, war ein Baum kein sicherer Unterstand. Ohne zu wissen wohin, sprintete er los, hinaus in den Regen. Er rannte die einzige Straße entlang, die er noch kannte. Sie führte ihn weiter weg von Dans Haus. Alles um ihn herum war grau. Nach nur wenigen Schritten schüttete es gewaltig, während heftige Blitze sich durch die Wolken zogen. Der Himmel fuhr alles auf, was er zu bieten hatte. Schon nach kürzester Zeit war der jugendliche Fuchs Zeit vollkommen durchnässt. Die Klamotten klebten matt-kalt auf seinem Fell, das wiederum auf seiner Haut. Als er das Ende der Straße erreicht hatte, teilte diese sich an einer T-Kreuzung in zwei Richtungen. Er blieb stehen. Wo lang sollte er? Rechts? Links? Der Tornado in seinem Inneren bäumte sich auf, er wehte beide Möglichkeiten beiseite. War es letztendlich nicht egal, wohin er lief, ein Ziel hatte er ja eh nicht? Minutenlang stand er einfach nur so da und ließ den Regen über sich ergehen. Ja, es war egal! Die Richtung, was er tat, ob er alleine war oder nicht ... einfach alles! Er hatte versagt! Nur eine simple Aufgabe hatte er zu bewältigen, NUR EINE! Und dennoch ... Es war dieser Gedanke des Versagens, der ihn nicht mehr losließ. Und dann kam der Moment, an dem er endgültig aufgab. Das war alles so ziellos, dachte er, das führte zu nichts. Der Weg nach vorne schien zu düster, er war nicht für ihn vorgesehen. Mutlos ließ er seine Schultern sinken und drehte um. Selbst das Weiterweglaufen hätte er nicht verdient, genauso wenig wie einen Unterstand. Völlig apathisch schlurfte Kiddy mitten auf der Straße die Strecke zurück, die er eben noch im Laufschritt überwunden hatte. Er spürte nichts mehr, keinen Regen, nicht die Kälte, die ihm in den Körper kroch, er ging auf keine Eindrücke neben sich ein, einfach alles war ausgeblendet. Wie eine Sphäre, in die nichts raus- oder reinkam, hing das Gefühl der Einsamkeit und der Verzweiflung über seinem Kopf. Seine Gedanken leerten sich, er hörte auf, sich überhaupt über irgendetwas zu sorgen. Das Einzige, was er noch hatte, war das Weitergehen, also setzte er einen Schritt vor den nächsten. Er achtete weder darauf wo er war, noch wie lange er so ging. Um ihn herum ging die Welt unter. Die Straßen waren schon nach kürzester Zeit überflutet, die Gullis kapitulierten, sie hatten keine Chance gegen die plötzlichen Wassermassen. Aus Rinnsteinen wurden reißende Ströme, die regenbogenfarbene lreste, Chinanudel-Verpackungen, Laub und allerlei Unrat beförderten. Seine Pfoten schlurften lustlos durch diese neuen, schmutzigen Wasserstraßen und bildeten kleine Wirbel in der Strömung. Selbst als ein Blitz unweit in ein Gebäude krachte und es bedrohlich laut krachte, war seine einzige Reaktion, dass sich seine Ohren eher von allein schützend anlegten und er den Kopf in die entsprechende Richtung hob, ihn aber sofort wieder desinteressiert sinken ließ. Die Stadt war wie ausgestorben, es schien fast als sei er der einzige Fur auf der Erde. Der Wind trieb ihm die dicken Tropfen peitschend ins Gesicht. Er presste die Augen zusammen und bog in eine Seitenstraße. Der Wind ließ schlagartig nach, der Regen jedoch nicht. Dafür ergossen sich hier wahre Sturzbäche von den Dächern und aus den überforderten Regenrinnen. Der Gehweg war ein dunkler See aus Schlamm und undefinierbarem Unrat geworden. Wäre Kiddy aufmerksamer gewesen, hätte er erkannt, dass es dieselbe Querstraße war, in der Marcel ihnen nur wenige Tage zuvor aufgelauert hatte. Gerade passierte er die Reste des geplatzten Nutellaglases, da formte der Wind einen Ruf. Fast klang es wie ein langes ‚i' das ihm entgegenwehte. In der Ferne heulte eine Feuerwehrsirene, sie war kaum wahrzunehmen, aber die war es nicht, sie klang anders, irgendwie künstlicher und auch tiefer. Dann hörte er es erneut, länger diesmal und lauter: ‚iiiiiiiieee'. Der junge Fuchs reagierte nicht darauf, es war ihm egal wie alles Andere auch. Beim dritten Mal jedoch war es anders. Die Tonlage hatte sich geändert und der Regen um ihn herum war schwächer geworden, leiser. ‚Kiiiiiddiiiieeee!' Seine Augen weiteten sich, Panik stieg in ihm auf. Das klang fast wie Dan, der ihn rief. Kiddy blieb stehen. Aber das war unmöglich, der war doch bei sich zu Hause? Jetzt erst erkannte er, wo er sich befand, Dans Wohnung war nicht weit weg. Vielleicht suchte der Dingo nach ihm? Er blieb stehen. Ihm war kalt und er zitterte durch die Angst noch zusätzlich. „Kiddy, woo bist duuu?" Dieses Mal war Dan viel klarer zu hören, er kam eindeutig näher. Vermutlich würde er jeden Moment um die Ecke biegen. Der geschockte Jungfuchs sah sich um. Er musste sich verstecken! Die einzige Deckung boten ihm zwei Mülltonnen, die am Straßenrand standen. Ein ungleichmäßiges Platschen von Pfoten auf dem nassen Boden war bereits zu hören. Dan durfte ihn nicht finden! So schnell er konnte sprintete Kiddy los, aber das allgegenwärtige Wasser machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Es hatte die dünne Staubschicht der Seitenstraße zu einer rutschigen Schmiere verwandelt, auf der man besser nicht rannte. Schon mit dem ersten Schritt rutschte er weg, strauchelte, fing sich dann einigermaßen ab und hechtete, mehr stolpernd als laufend, auf die Mülltonnen zu. Aber seine Pfotenballen fanden am Straßenrand noch viel weniger Halt, er konnte nicht rechtzeitig bremsen, er schlitterte nur noch. Schmerzhaft prallte er mit den Zehen gegen den Bordstein und fiel mit lautem Getöse über die erste der beiden Mülltonnen. Die Zweite riss er dabei um. Zum Glück waren beide bereits am Morgen geleert worden, aber das polternde Geräusch war ohrenbetäubend. Ihm klingelte der Kopf. Das musste selbst in diesem Unwetter nicht zu überhören gewesen sein. Kiddys Flanke schmerzte, genau dort, wo sich der Aufsteller am Vormittag hineingebohrt hatte. Auch wenn der Sturz spektakulär hatte aussehen müssen, war er dieses Mal wohl glimpflich abgelaufen, lediglich sein Zeh tat ihm weh. „Kiddy? KIDDY! Bist du das?" Dans Stimme war zu laut, er würde ihn jeden Moment finden. So wie er dalag, nass, voller Schlamm, halb über die Mülltonne gestürzt, würde er sich auch nicht mehr hochrappeln können. Er ließ sich entmutigt hinabsinken. Sein Versteckspiel war vorbei. Alles war vorbei! Was konnte er eigentlich? Wieso war er so ein Versager? All diese negativen Gedanken summierten sich und mündeten in einem erneuten Weinkrampf, der aus ihm herausbrach, sobald er in Dans freundliches, aber besorgtes Gesicht blickte. „Kiddy, scheiße! Alles in Ordnung?" Aber der verzweifelte Fuchs konnte nicht antworten. Er bot einen bemitleidenswerten Anblick. Beschämt vergrub er den Kopf in seiner Armbeuge und weinte bitterlich. „Heee, komm hoch, ich helf' dir!" bot Dan an. Kiddy reagierte nicht. Die Stimme, diese freundliche, vertraute Stimme ließ ihn sich noch viel schlimmer fühlen. Die Scham über sein Versagen wurde dadurch nur noch mehr angeheizt. Aber Dan gab nicht auf. „Kiddy, bitte, komm hoch, wir gehen nach Hause. Lass uns aus dem Regen raus." Als der junge Fuchs erneut nur schluchzte, redete er einfach weiter. „Wir spülen dir den Schlamm aus dem Fell und ... du blutest ja!" Jetzt schaute Kiddy auf, er betrachtete seinen puckernden Zeh und sah die abgeknickte Kralle. Sie hing nur noch an einem kleinen Stück Haut, ansonsten war sie glatt herausgebrochen. Das war nichts Schlimmes an sich, sie würde nachwachsen. Für den Moment hatte er aufgehört zu weinen und starrte Dan in die Augen. Er hielt dessen Blick jedoch nicht stand, beschämt ließ er den Kopf sinken und beobachtete ein braunes Rinnsal, das sich, gespeist durch den Ablauf einer fast vollständig verstopften Dachrinne, seinen Weg durch schmutzigen Schotter hin zu seinem linken Arm bahnte, mit dem er sich aufstützte. Das Fell dort konnte nicht noch mehr aufsaugen, es war bereits matschig-braun. Der Regen war zu einem monotonen Stippeln zurückgegangen. Er machte keine Anstalten, sein begonnenes Werk, die Erde zu überfluten, zu Ende zu bringen. Kiddy verharrte unbeweglich. Die Welt schien wie durch einen Schleier aus Scham und Trauer auf ihn hinabzublicken. Durch ebendiesen Schleier drang eine Pfote zu ihm, Dan griff seinen anderen Arm, mit sanfter kraft zog er den abwesenden Fuchs auf die Beine und musterte ihn von oben bis unten. „Wie siehst du denn aus? Was ist denn bloß passiert?" Als Kiddy nicht antwortete, zog der Dingo seinen Freund voran. „Komm mit, wir gehen erstmal heim!" Unfähig zu widersprechen, folgte Kiddy der Anweisung. Noch immer liefen ihm stumme Tränen die Schnauze hinab. Jetzt humpelten sie beide. Die Kralle fiel schon nach wenigen Metern ganz ab und wurde sofort von ablaufendem Regenwasser weggespült. Was zurückblieb, war ein kreisrundes, blutendes Loch und ein wundes Brennen in seinem Zeh. Dan nahm Rücksicht auf den Gemütszustand seines Freundes, er akzeptierte dessen Schweigen und übernahm das Handeln für sie beide. Zu Hause angekommen schüttelte er sich vor der Tür so gut es ging trocken. Als Erstes brachte er Kiddy direkt ins Bad. Er stellte den pitschnassen Fuchs in die Dusche und zog ihm ohne Gegenwehr Shirt und Hose aus. An seinem Bein prangte ein blauer Fleck und etwas Blut, aber sonst schien es nicht weiter schlimm zu sein. Dann erinnerte er sich an die Scham seines Freundes und drehte ihn um, bevor er ihm auch die völlig durchnässte Unterhose runterzog. Der zitternde Kanide vor ihm machte noch immer keine Anstalten, sich von alleine zu bewegen, also stellte Dan die Dusche warm und spülte ihm die stinkende Brühe aus dem Fell. Kiddy pinkelte, als das Wasser ihm über die Beine lief. Ob er es nicht verhindern konnte, wollte oder vielleicht nicht einmal bemerkte, wusste der Ältere von beiden nicht. Er freute sich jedoch darüber, dass überhaupt eine Reaktion von dem verstörten Jungfuchs kam, auch wenn sie weitaus ungewöhnlicher war, als ein einfacher Wortwechsel. Er entdeckte die Schramme auf dem Rücken, die sich bis zu dessen Flanke zog. Was hatte er bloß erlebt? Eine Mischung aus Wasser, Blut, Urin, Schlamm und l lief in den Ausguss, der Fuchs hatte sich offenbar die schmutzigste Stelle von ganz Berlin gesucht und war hineingestolpert. Als er fertig war, wickelte Dan das größte Badetuch, das er besaß, um ihn und half ihm, aus der Dusche zu steigen. Er platzierte seinen Freund auf der Couch, der sogleich tief in den Kissen versank und teilnahmslos die Decke anstarrte. Der Dingo kramte einen schwarzen Verbandkasten aus dem Regal, wie er sonst in Autos zu finden war. Der blutige Zeh hatte bereits rote Flecke auf einem der Teppiche hinterlassen. „Ich werde das verbinden müssen." Er sprach leise und besonnen und wartete eine Reaktion ab. Kiddy nickte so zaghaft, dass der Dingo Mühe hatte, die Bewegung überhaupt wahrzunehmen. Dann hob er die verletzte Hinterpfote vorsichtig an und legte sie auf sein eigenes Knie. Mit einem jodgetränkten Wattepad tupfte er den Rand der Wunde ab. Nur einmal zuckte der Fuchs, obwohl Dan sich sicher war, dass diese Behandlung bestimmt höllisch brannte. Als er fertig war, schnitt er von einer Mullbinde ein Stück Verband ab und wickelte es um ein steriles, saugfähiges Material, das er auf dem Zeh platzierte. Als er Kiddys Bein weiter anwinkelte, um auch zwischen den Zehen wickeln zu können, rutschte das Badetuch von dessen Knie. Dan hätte erwartet, dass der Fuchs spätestens jetzt hektisch werden würde, um sich zu bedecken, denn aus seiner Position heraus könnte er nun, wenn er aufblicken würde, nicht nur dessen Felltasche und die Bällchen sehen, sondern, bedingt durch die ungünstige Liegeposition, auch dessen Tailhole. Doch der Fuchs schien das gar nicht zu realisieren. So arbeitete Dan seelenruhig weiter, bis der Verband festsaß. Dann setzte er das Bein wieder ab und schloss den Koffer. „Schlaf dich erstmal aus." Er legte seinen gebeutelten Freund behutsam auf die Seite, hob ihm die Beine auf die Couch und deckte ihn mit dem Badetuch und einer Wolldecke zu. Kiddy schlief sofort ein. -Zwei Stunden später weckte ihn der Geruch nach frisch gekochtem Kakao und Gebäck. Er setzte sich blinzelnd auf. Nur langsam kam die Erinnerung zurück. Der Regen war das Erste, an das er sich erinnerte, dann sein Sturz. Sein Zeh schmerzte erst, als er daran dachte. Dan! Er hatte ihn gefunden! Sofort kamen die negativen Gedanken zurück, er fühlte sich schlecht, nutzlos. Er blickte an sich hinab. Das Fell war weitestgehend getrocknet, nur das Badetuch war noch feucht. Scham machte sich in Kiddys Kopf breit, als ihm klar wurde, dass der ältere Dingo ihn ausgezogen und geduscht hatte. Er hatte ihn nackt gesehen, das war ihm extrem peinlich. „Na, geht es dir besser?" fragte Dan, der mit einem zerschrammten Tablett und dampfenden Tassen in den Raum kam. Kiddy blickte beschämt zur Seite. Er wollte nicht reden. Am liebsten wäre er auch von hier geflohen, aber wie lang sollte er so weitermachen? Wo würde das hinführen? Er blieb seinem Freund eine Antwort schuldig und dachte stattdessen über seine Situation nach. Er wollte sein Leben doch auch nur so gut im Griff haben, wie Dan das Seine. Wie schaffte er das bloß? Es dauerte eine ganze Weile, bis ihm eine Einsicht kam. Der andere Kanide hatte inzwischen die Kakaotassen auf den Tisch gestellt und dazu frische Croissants aus einer Tüte geholt. Vielleicht, so dachte Kiddy, wäre jetzt der Zeitpunkt, sich seinen Fehlern zu stellen, nicht mehr wegzulaufen? Er war doch schon groß! Trotzdem fiel es ihm extrem schwer, diesen Gedanken überhaupt durchzuspielen. In den folgenden Minuten, in denen er schwieg und mit sich rang, ließ Dan ihn in Ruhe. Er gab ihm alle Zeit, die der Vulpine brauchte. Es bildete sich bereits eine dünne, kräuselige Haut auf dem Kakao, die Kiddy stets als ekelhaft empfunden hatte. Als er länger darüber nachdachte, kam ihm eine Idee. Das war es, das würde seine Hürde sein! Wenn er sich überwinden konnte, die Haut zu trinken, würde er sich bestimmt auch zu den anderen Dingen durchringen. Es wartete so viel auf ihn, er würde sich Dan stellen müssen, und was viel schlimmer war: sich selber! Vorsichtig packte er die Tasse, hob sie skeptisch und am langen Arm hoch. Das Badetuch rutschte ihm von der Schulter, er saß mit freiem Oberkörper da. Das war egal, jetzt oder nie, dieses Mal würde er sich stellen! Er nahm einen zögerlichen Schluck. Sofort klebte ihm die Haut schleimig an seiner Lippe. Mit leichtem Ekel schleckte er sie auf und schluckte sie schnell hinunter. ‚Geschafft! Es geht doch! Also los', forderte er sich selber auf. Aber weiter kam er nicht. Seine Ängste waren größer als das Bisschen Mut, dass seine Kakaoaktion ihm eingebracht hatte ... es war eben doch nicht so einfach, sich diesem tosenden Sturm zu stellen, in dem sich so viel negatives Gedankengut angesammelt hatte. „Tut gut, hmh?" fragte Dan. Kiddy nickte. „Ja," krächzte er mit heiserer Stimme. „Danke." „Ach was, ich hab so viel Kakao, ich ..." „Nein," unterbrach der junge Fuchs ihn. „Für's Nach-Hause-Holen." Er senkte den Kopf, hielt aber weiterhin durch. „Ich ..." Kiddy holte tief Luft, er wollte die Initiative nicht verlieren und sich deshalb durch seinen Freund nicht unterbrechen lassen. „... ich hätt's nicht ohne dich geschafft." „Ist okay. Ich habe mir Sorgen gemacht, du warst so lange weg. Ich hatte Angst, dass dir was passier ist. Und dann das Gewitter, da bin ich los, dich zu suchen. Was war denn überhaupt los, hat Marcel dich verfolgt?" „Nein ..." Und dann erzählte Kiddy Dan die ganze Geschichte. Wie er eigentlich nur Brötchen und ein Geschenk holen wollte, weil er dem Dingo so dankbar war, für alles, was er für ihn getan hatte. Er erzählte von dem Missverständnis mit der Brille, dem umgefallenen Aufsteller, seiner Flucht. „Und ... und da hab ich einfach Angst bekommen," presste er heraus. Seine Stimme drohte ihm zu versagen. Er begann heftig zu zittern und sein Unterkiefer bebte erneut. „Es war ... einfach alles zu viel, ich ... ich dachte ..." Er schluckte schwer. „... dass ich gar nichts im Leben hinbekomme und du ..." Erneut bildeten sich Tränen in seinen Augenwinkeln. „... du hast immer alles im Griff, du bist viel erwachsener als ich." Seine Lefzen zitterten, als er gegen einen neuen Weinkrampf ankämpfte, was ihm nicht lange gelang. „Aber ich ... bei mir geht immer alles schief!" Die Leere breitete sich erneut in ihm aus, so plötzlich, so gewaltig, dass sie ein letztes Mal die Kontrolle an sich riss. Sie forderte die Flucht, ‚nur raus hier!', befahl sie! Er sprang auf und wollte weglaufen, aber Dan reagierte blitzschnell und schnitt ihm den Weg ab. Kiddy rannte ihm direkt in die Arme. Der Dingo hielt seinen Freund fest und ließ ihn nicht mehr los. Er wusste, was dieser jetzt brauchte, es war nichts anderes als eine starke Schulter, um sich erstmal richtig auszuheulen. Und das tat Kiddy. Alle gesammelten Bilder vom Vormittag brachen wie eine riesengroße Welle über ihm zusammen. Er zitterte vor Anstrengung, als er sich alles wie in einem Kinosaal erneut ansah. Dan kannte diesen Zustand nur zu gut. Wie oft hatte er abends alleine in seinem Bett gelegen und geweint, als die schrecklichen Erlebnisse aus dem Heimschlafsaal wieder hochkamen. Teilweise hatte er tagelang nicht schlafen können deswegen, stattdessen hatte er geweint, gekotzt und kalte Schweißausbrüche durchlebt. Erst, seit Kiddy bei ihm war, hatten diese Horrorabende ein Ende. Es war, als habe der junge Fuchs ein neues Kapitel in seinem Leben eingeleitet, das so viel Platz brauchte, dass es die alten, unangenehmen Erinnerungen verbannte. Dafür war er ihm sehr dankbar. Kiddy japste erneut auf und grub seine Krallen fest in den Rücken seines Freundes, denn mit den Bildern kamen auch die Gefühle. Völlig aufgelöst hing er Dan in den Armen und weinte, länger und länger. Immer wieder wurde er geschüttelt von heftigen Schluchzattacken, aber der Dingo war für ihn da. Es dauerte einige Minuten, bis Kiddy sich beruhigte und der Sturm allmählich abebbte. Gestärkt durch Dans kraftspendende Körperwärme, konnte er sich am Ende doch seinen Sorgen entgegenstellen. Sie wollten nicht so leicht verschwinden, aber er gab nicht auf. Er nahm sich alle Zeit, die er brauchte. Niemand hetzte ihn. Immer mehr Stärke rang er dem Ungetüm ab. Jede noch so kleine Stelle, die der Sturm preisgab, füllte er mit neuen Gefühlen. Dan versorgte ihn mit Hoffnung und Zuversicht. Auch andere schöne Dinge fand er tief in seinem Inneren wieder: Dankbarkeit und Geborgenheit, die schließlich pure Lebensfreude mitbrachten. Das Kräfteverhältnis kippte, Kiddy hatte gesiegt. Erschöpft, aber glücklich kehrte er in die Realität zurück. Seine Tränen waren auch hier versiegt. Sein Wangenfell war feucht, aber es trocknete bereits hier und da und hinterließ eine dünne Salzkruste. Erst jetzt bemerkte er, dass das Badetuch bei seinem verzweifelten Fluchtversuch auf der Couch zurückgeblieben war, jedoch kümmerte ihn dieser Umstand mit einem Mal herzlich wenig. Je länger er ausharrte, umso ruhiger wurde er. Alles war gut, Dan war bei ihm! Es gab nichts mehr, wofür er sich schämen musste. Das Schulterfell des Dingos kitzelte ihn an seiner schwarzen Nase. Er nahm dessen Duft in sich auf. Sein Herz wurde erfüllt mit beinahe geschwisterlicher Wärme, und das, obwohl Kiddy nie Geschwister gehabt hatte. Bei ihm fühlte er sich geborgen. Seine Ängste seine Scham, all das fiel von ihm ab und was noch Minuten zuvor so präsent gewesen war, schien schon bald ferner denn je. Dan wagte kaum sich zu bewegen, er streichelte mit der rechten Pfote lediglich über den Rücken des Fuchses und wartete geduldig ab. „Tut mir leid, dass ich so schwierig bin," entschuldigte sich Kiddy mit belegter Stimme. „Ach was! Bist du doch gar nicht." „Doch wohl!" „Blödsinn!", erwiderte Dan. „Sowas kann doch jedem mal passieren. Is'n Missverständnis, mehr nicht." „Aber ..." „Hab' ich dir erzählt, wie ich auch mal einen Auffahrunfall verursacht habe? Weil ich die Gesten eines Autofahrers falsch verstanden habe?" „M-mhm, hast du nicht," antwortete Kiddy wahrheitsgemäß. „Hab' ich aber, also siehste, das passiert auch mir." Der Fuchs schniefte und ließ von Dan ab. Er blickte ihm in die Augen und suchte nach Anzeichen, dass sein Freund log um ihn aufzumuntern, fand aber keine. „Wirklich?" fragte er, schüchtern, fast so, als könne er es nach einmaliger Erwähnung nicht glauben. „Wirklich," versicherte Dan. „Totalschaden! Was bin ich geflitzt!" Er erzählte die gesamte Geschichte. Kiddy wischte sich über die Nase und hörte fasziniert zu. „Ich habe mich fast zwei Wochen lang nicht auf die Straße getraut, weil ich dachte, das war's, aber irgendwann ging mir dann das Essen aus und ich habe Hunger bekommen." „Und dann?" Inzwischen wischte Kiddy sich durch das ganze Gesicht. Sein Fell war feucht und widerspenstig struppig. Mit der Linken griff er geistesabwesend seine entblößte Felltasche und verdeckte sie so gut es ging. „Nicht viel. Zum Glück hat sich niemand an mich erinnert. Aber ich bau' auch ab und an mal so richtig Scheiße, mein ich damit." „M-hm." Kiddy hatte sich die Augen rot gerubbelt. Seine Stimme klang noch immer belegt. „Na los, zieh dich mal an!" Er stellte Kiddy seinen Rucksack vor die Nase. „Ich glaube, ich kann dich ein wenig aufheitern." Der Fuchs holte eine neue Unterhose, drehte sich jedoch diesmal nur leicht zur Seite, als er sie anzog. Seine Scham, die er noch heute Morgen so heftig empfunden hatte, schien nach Dans verständnisvoller Intervention beinahe welpenhaft albern. Der Dingo hatte zwar erzählt, dass auch sein Leben nicht frei von folgereichen Missgeschicken war, aber dennoch - er hatte einfach ein verdammt gutes Geschick dafür, in solchen Situationen souverän zu wirken. Trotz heftiger Widerworte Kiddys marschierten die beiden Freunde humpelnd, aber schnurstracks, auf den Kanidenladen zu. Der Regen hatte inzwischen aufgehört und die Spätnachmittagssonne wehrte sich gegen die verbliebenen Wolken. „Warte hier ... und vertrau mir," gebot Dan, als er als Erster durch die Tür schritt und seinen Fuchsfreund vor dem Laden zurückließ. ‚Wir müssen draußen bleiben!' mahnte auch ein Aufkleber, der einen feralen Hund und eine Katze zeigte, die hinter einem roten Verbotsbalken saßen. Kiddy fühlte mit ihnen. Von drinnen hörte er Stimmen, die von Dan und die des alten Wolfes, aber er konnte, trotz seiner guten Ohren die Worte nicht verstehen. Nur zwei Minuten später stieß eine hellbraune Pfote die Tür auf. „Komm rein." Mit eingeklemmtem Tail durchschritt Kiddy die Tür ein drittes Mal. Schreckliche Gefühle drohten hochzukommen, als er die Einrichtung und den Geruch dieses Ortes wiedererkannte. Das Chaos vom Morgen war beseitigt, nur eine Schramme am Boden und einige Brötchenkrümel zeugten noch von dem umgefallenen Aufsteller. Der alte Wolf blickte ihn aus kalten, bernsteinfarbenen Augen an. Vor Jahren noch mochten sie leuchtender, gelber gewesen sein, das hatte sich geändert, aber die Härte ihres Blickes war durch das Alter ungebrochen. Der Fuchs legte die Ohren an. „Das hier ist Harry," stellte Dan den Besitzer vor. Kiddy schluckte. „Du willst mir etwas sagen?" bollerte die tiefe Lupinenstimme ihm entgegen. Es klang weniger wie eine Frage als vielmehr wie eine Aufforderung. „J-ja," fing Kiddy an. „Es ..." Er atmete tief durch, um Kraft zu sammeln. „Es tut mir leid, dass ich den Aufsteller kaputt gemacht habe ... und den Schmuck ..." Hektisch fügte er hinzu: „... und die Brille wollte ich nicht stehlen, wirklich nicht, ich habe ... sie war auf meinem Kopf und ..." Der Alte verzog keine Miene. „... da hab ich sie übersehen. Und als sie mich ansprachen, da ..." Dan warf dem stämmigen Wolf einen Blick zu. Grinste er etwa? „... ich ... da bin ich ..." Jetzt grinste der Alte zurück, wieso zum Teufel grinsten die sich an? Kiddy war völlig irritiert. „... also ... es tut mir leid." Er senkte sein Haupt und erwartete den folgenden Wutanfall. Der allerdings blieb aus. „Ist in Ordnung, Kleiner!" polterte Harry. Kiddy war verwirrt, wieso bekam er keine Bestrafung, nachdem er alles kaputt gemacht hatte? „Weißt du, Dan und ich kennen uns, seit er ..." Er schätzte mit der Pfote einen knappen Meter vom Boden ab. „... so groß in etwa ist. Er hat mir bereits erklärt, dass du die Brille nicht stehlen wolltest und du hast dich ja auch entschuldigt." Er lachte beherzt und auch Dan prustete in seine Pfote. „Etwas holperig, aber entschuldigt." Kiddy war baff. Darum hatte der Dingo so viel Zuversicht ausgestrahlt, er musste gewusst haben, dass Harry sein Spiel mitspielte und ihn eine Entschuldigung stammeln lassen würde. Für einen kurzen Augenblick überlegte er, ob er ihm dafür sauer sein sollte, aber genaugenommen hatte sein Freund ihm dadurch mehr geholfen, als wenn er ihn eingeweiht hätte: Es ging ihm jetzt besser. Er hatte sich entschuldigt und ihm war Absolution erteilt worden. „Und ihr feixt euch einen, während ich mir hier einen abbrech'?" fragte er fassungslos. „Jo!" bestätigte Dan. „Etwas Spaß schienst du nötig gehabt zu haben." Kiddy verstand, der Spaß ging zwar auf seine Kosten, aber durch seine Erleichterung, die er jetzt empfand, konnte er selber mitlachen. Harry erzählte, dass alles viel weniger spektakulär war, als es den Anschein gehabt hatte. Er habe den Aufsteller nur wieder aufheben müssen, an ihm war nichts kaputt gegangen. Das Scheppern hatten die Unmengen Ringe und Armbänder verursacht, die dabei von den Halterungen gefallen, aber ebenfalls heile geblieben waren. Sie müssten nur wieder sortiert und auf die vielen Arme verteilt werden, dann wäre alles wieder wie vorher. Wegen seines Alters sei er aber nicht mehr fit genug, selber unter allen Regalen nachzuschauen. Hier sah Kiddy eine gute Gelegenheit, sich zu rehabilitieren: Er und Dan halfen, die restlichen Teile zu suchen. Sie bückten sich unter die tiefen Regale und fanden tatsächlich noch etlichen Schmuck. Als das erledigt war, unterhielten die Drei sich entspannt. Dan und Harry gaben Geschichten zum Besten, in denen auch sie in ihrem Leben folgenschwere Fehltritte getan hatten, über die sie rückblickend nur lachen konnten. Kiddy war sehr erleichtert und versprach, am nächsten Tag rumzukommen, um das Einsortieren zu übernehmen. Dieser Vorschlag gefiel Harry sehr. Der Fuchs zahlte die kaputte Brille, bevor sie sich verabschiedeten und entschuldigte sich ein letztes Mal. Am Abend, als der Fernseher schwieg, Dan sich hinter seinen Vorhang zurückgezogen hatte und auch Kiddy zur Ruhe kam, lag er auf der Couch und ließ den Tag und dessen Entwicklung Revue passieren. Er versuchte herauszubekommen, wieso ihn eine Gedankenspirale hatte so chancenlos alle Hoffnung verlieren lassen. Ein letztes Mal für heute ging er die Ereignisse durch und verstand allmählich. Ihm war etwas Unangenehmes passiert, ohne Frage, aber durch seine Flucht hatte er alles nur noch schlimmer gemacht. Er begriff, dass er - hätte er gleich den Mut aufgebracht, dazubleiben und sich bei Harry zu entschuldigen - weitaus weniger heftig und kürzer gelitten hätte als so. Beim nächsten Mal, nahm er sich vor, würde er gleich stärker sein. Wenn solch eine Situation wieder entstünde, dann wäre er besser darauf vorbereitet! ‚Egal wie aussichtslos etwas dir erscheint, denk daran, es geht immer weiter', hatte Dan kurz vor dem Schlafengehen dazu gesagt. Und er hatte recht: Es ging immer weiter. Kiddy drehte sich auf die andere Seite. Er hatte einen tollen Freund gefunden, das war ihm heute mehr denn je klar geworden. Mit ihm würde er jede nur erdenkliche Schwierigkeit meistern, ganz bestimmt! Er wollte für immer bei ihm bleiben. Mit dankbarem Blick in Richtung des Vorhangs kuschelte er seinen Kopf in das Kissen und schlief ein. In dieser Nacht träumte er von seiner Mutter, von Dan, Berlin und seinem Vater. Marcel tauchte kurz auf, hielt sich seinen blutenden Kopf. Dann waren sie in seinem Zimmer. Alles sah noch immer so aus wie an dem Tag, an dem er abgehauen war ... Er merkte es nicht, aber eine letzte, stille Träne bildete sich an diesem Tag in seinem Augenwinkel und tropfte auf das Kissen...

Teil 4: Am Scheideweg

Er war nun schon seit sechs Tagen abgehauen. Hatte er das Richtige getan? Was machten seine Eltern wohl? Kiddy war bei seinen Plänen zu Anfang nie in den Sinn gekommen, dass sie die Polizei einschalten würden, aber nun, nachdem auch der Streit so viele Tage zurücklag, malte er sich aus, wie seine Mutter weinend mit irgendwelchen Beamten sprach, bei der Vorstellung wurde ihm ganz schlecht. Gegen 22 Uhr liefen die Spätnachrichten. Normalerweise schaute er weder Nachrichten, noch öffentlich-rechtliche Sender, aber heute wollte er sich vergewissern, dass auch nichts über ihn lief. Zuerst kamen Allerweltsnachrichten, Politik und dann ... Unvermittelt wurde sein Foto hinter dem Nachrichtensprecher eingeblendet. Sein Magen verdrehte sich. „Die Polizei bittet um ihre Mithilfe," begann dieser vorzulesen. Die Ohren wurden Kiddy heiß, alle Gliedmaßen prickelten vor Unbehagen. Sein Name wurde vorgelesen. Er fühlte sich wie ein Schwerverbrecher. „... vermutlich von zu Hause ausgerissen. Er trug zuletzt eine anthrazitfarbene 3/4tel-Hose und ein dunkelbraunes T-Shirt." Kiddy starrte auf das beschriebene Shirt, das er am Tag seiner Flucht getragen hatte. „Sein genauer Aufenthaltsort ist unbekannt. Seit den frühen Nachmittagsstunden durchstreifen Spezialsuchtrupps der Polizei die umliegenden Wälder, bisher ohne jedes Ergebnis." Es war wie bei einem Verkehrsunfall. Nur allzu gerne hätte er weggesehen oder einfach abgeschaltet, aber er schaffte es nicht. Erst recht nicht, als das weinende Gesicht seiner Mutter eingeblendet wurde. Sie berichtete mit schwerer Stimme über ihren Streit und wie sehr es ihr leidtue und dass er noch nie zuvor so etwas getan hätte wie wegzulaufen. Kiddy liefen die Tränen über die Wange. „Mama ..." brachte er noch heraus, für mehr fehlte ihm die Kraft. Was sein Vater der Kamera zu sagen hatte, konnte er nicht verstehen, weil er da schon längst laut schluchzend in sich zusammengesunken war. Er hatte bei seiner Kurzschlusshandlung nicht ein Mal darüber nachgedacht, dass eine solche Flucht von zu Hause (in seinem Alter) in nationalem Fernsehen und mit einer ausgedehnten Suchaktion enden würde. Erkannte ihn vielleicht jemand wieder? Was war mit den vielen Leuten, deren Autoscheiben er geputzt hatte oder den Kassierern bei Lidl? Je länger er nachdachte, umso mehr wuchsen Angst und Verzweiflung in ihm. Wie kam er da jetzt wieder raus? Sollte er sich einfach zu Hause melden? Er bekäme doch bestimmt riesigen Ärger. Aber was wenn er sich nicht meldete; wo sollte er dann noch hin? Eines stand fest: Er würde eine Entscheidung treffen müssen. Kiddy war so in sich gekehrt, dass er Dan gar nicht hörte. Der war von seinem Schluchzen wach geworden und trotz des lädierten Beins fast lautlos zu ihm gekommen. Der Nachrichtensprecher hatte wieder übernommen und sagte ein paar letzte Worte, bevor er das nächste Thema anmoderierte. Dan sah das Foto und die eingeblendete Hinweistelefonnummer der Polizei und verstand sofort. „Hey," begrüßte er Kiddy. „Hey!" „Und, was wirst du jetzt tun?" „Ich weiß es nicht, ich kann doch nicht ..." Weiter kam Kiddy nicht, ihm versagte die Stimme und er weinte jetzt völlig ungehemmt und laut. Dan wusste nicht recht, wie er sich verhalten sollte, ihn einfach in den Arm zu nehmen wäre wohl nicht das Richtige dachte er. Der Fuchs war bis auf den Tag nach dem Gewitter immer so geniert gewesen, dass die Berührung womöglich als schwul rüberkommen könnte. Also holte er ihm lediglich eine Klorolle und setzte sich einfach neben ihn. Kiddy brauchte eine ganze Weile, bevor er sich mit feuchtem und zerknittertem Gesicht umsah. Noch immer rannen ihm Tränen die Nase herunter. „Das längste Taschentuch der Welt?" fragte Dan, als er seinem Freund die Klorolle hinhielt. Der gluckste nur und nickte. Als der junge Fuchs sich die Augen und Nase so gut es ging trocken gewischt und seine Stimme wiedererlangt hatte, machte der Dingo einen zweiten Versuch. „Ich helfe dir, weißt du. Ich meine, was auch immer du jetzt machen willst." „Danke," brachte Kiddy nur sehr zaghaft heraus. Wieder herrschte eine Zeit lang Stille. „Ich muss sie anrufen." Er hob nicht den Kopf, aber seine Stimme war wieder fest. Er konzentrierte sich und brachte Kraft auf zum Sprechen. In seinem Hals hatte sich ein Kloß gebildet, groß wie eine Kiwi, aber Kiddy wusste, dass er dem Druck einer Suchmeldung nicht standhalten würde. So schrecklich wollte er seine Familie doch nicht leiden sehen, er wollte ihnen doch nur etwas beweisen. Hatte er das nicht bereits getan? „'S is' nur ... ich ... ich hab so Angst vor dem Telefonat. Was sie sagen, weißt schon." „Das verstehe ich. Soll ich dabei sein?" fragte Dan. „M-hm, ja." Kiddys Stimme drohte wieder einzubrechen. Er bemühte sich und schluckte. Erneut ergab er sich seinen Gedanken. Er wollte Dan auch nicht verlassen. Waren es bis heute auch nur ein paar Tage, so hatte der Fuchs doch viel von seinem neuen Freund gelernt. Es hatte sich eine ganze besondere Zuneigung gebildet, mehr als zu seinen sonstigen Freunden. „Hast du ein Telefon?" fragte er Dan. „Nee, brauch ich nicht, so was." „Ich ruf gleich morgen früh an. Kauf ich halt ein Prepaid-Handy. Das müsste gehen." „Und wenn du angerufen hast? Was dann? Gehst du dann wieder zu deinen Eltern?" „Ich weiß nicht, ja, schätze schon." „Mh, 'kay." Es klang nicht sonderlich begeistert, wie Dan das sagte. Auch er hatte die Gesellschaft seines neuen Freundes zu schätzen gelernt. „Komm doch mit!" forderte Kiddy ihn auf. „Du hast eine Familie und ich einen großen Bruder." Sehr überzeugt war er von der Idee allerdings nicht. Dan war ruhig. Es klang verlockend, eine Familie war das, was er sich immer wieder gewünscht hatte. Auf der anderen Seite wusste er, dass es nicht möglich war, einfach so eine Familie zu finden, die ihn aufnehmen würde. Von den Umwegen und Hürden der Behörden mal ganz zu schweigen. Und das, wo es noch immer seine größte Sorge war, entdeckt und wieder in ein Heim gesteckt zu werden. „Ja mal sehen," sagte er trotzdem. Die beiden diskutierten eine geschlagene Stunde, während der Kiddy noch zwei Mal weinen musste. Dan legte am Ende doch seinen Arm um den wimmernden kleinen Fuchs, da er nicht wusste, wie er ihm sonst hätte helfen sollen. Die warme Umarmung half Kiddy, er klammerte sich an Dan fest und heulte ihm das Schulterfell feucht. Dan war wahrlich wie ein großer Bruder. Um seinen Freund in dessen Verzweiflung nicht alleine schlafen zu lassen, schob der Dingo seine Matratze ins Wohnzimmer und legte sich 90 Grad quer zur Couch, darauf. Kiddys Nacht war durchzogen von kurzen Schlafphasen, wilden Träumen im Halbschlaf, von einer Wohnung in Berlin und seiner Mutter, wie sie ihn in sein Zimmer einsperrte, ein Zimmer in dem nichts mehr war außer einem Fenster zum Hinausschauen. In einem Traum lief er hinter einem Zug her, der Dan von ihm wegtrug. Er konnte seinen Freund durch das Heckfenster sehen Am Schild des letzten Waggons, dessen rote Rücklichter ihn fast zu blenden schienen, stand ‚Koblenz'. Am nächsten Morgen stand er gegen 7 Uhr schon auf. Er zitterte am ganzen Leib, die Nacht hatte ihn schwer mitgenommen. Dan schnarchte leise und sabberte in sein Kissen. Jetzt im Licht eines neuen Tages und mit ausgeschaltetem Fernseher, der sein Gesicht nicht gerade in den Hauptnachrichten zeigte, schien die Idee, seine Eltern anzurufen, doch keine so gute zu sein. Auf der Toilette überlegte Kiddy sich, ob er wirklich anrufen sollte. Hatte er die Kraft dazu? Er würde Dan bestimmt nie wieder sehen. Der dürfte nämlich nirgends auf der Bildfläche erscheinen, sonst würde man ihn mit Sicherheit wieder in ein Heim stecken, das hatte der Dingo ihm prophezeit. Aus der Küche wollte der Fuchs nichts haben, er hatte keinen Hunger. Sein Magen war wie zugeschnürt. Stattdessen zählte er sein Geld. Durch verschiedene Einkäufe war nicht mehr viel davon übrig. Knappe 63€, das sollte für ein Telefon reichen, schätzte er. Dan erwachte kurz nach 8 Uhr. Die beiden wechselten nur wenig Worte. Erst als der Gastgeber - wie am ersten Tag - ein Tablett mit zwei heißen Kakaos auf dem Wohnzimmertisch abstellte, tauten beide auf. „Und, wann willst du losgehen?" „Wenn die Läden aufmachen, weiß nicht, so Zehn?" „Ja, das geht." „Falls die mich orten und gleich mitnehmen ... ich fand's toll hier." Dan musste lachen. „Sach mal ... ‚orten und mitnehmen'? Du musst noch eine Menge über reale Polizeiarbeit lernen glaub' ich." Er schmunzelte und schlürfte seinen Kakao. Kiddy fühlte sich gekränkt, aber wahrscheinlich hatte der Ältere wie so oft Recht. Bis zehn Uhr verging die Zeit nur schleppend langsam. Als es dann endlich zehn war, war es wiederum zu schnell gegangen. Mit Dans Zuspruch ging Kiddy dann aber doch los in einen kleinen Handyshop. Der weiße Tiger hinter dem Tresen sprach mit einem starken sibirischen Akzent, hatte aber für 59€ ein einfaches Prepaid-Telefon im Angebot. Kiddy kaufte es. Wieder draußen gingen die beiden Freunde in den angrenzenden Stadtpark. Sie hatten sich darauf geeinigt, das Telefonat nicht in Dans Wohnung zu führen. So war der Fuchs einfach beruhigter, da er insgeheim noch immer mit einer Ortung wie in Hollywoodfilmen rechnete. Der Dingo ging voran und führte die Freunde in einen eng bewachsenen Gehweg, der nach wenigen Metern in einem kleinen Sitzrondell endete. Kiddy fummelte noch im Gehen das Handy aus der Verpackung. Gerade setzte er als letzten Schritt den Akku rein und schloss das Gehäuse. „Hier sind wir ungestört. Da kannste telefonieren, ohne dass irgendwelche Leute vorbei laufen." „Das denkst du!" sagte eine vertraute Stimme aus dem Gebüsch. Kiddy drehte sich um und wurde sofort von den Pfoten geworfen. Marcel hatte sich mit all seinem Gewicht auf ihn gestürzt. ‚Diesmal nicht, DIESMAL NICHT!' ging es Kiddy durch den Kopf. Er schlug kraftvoll, aber recht ungezielt nach seinem Angreifer. Dan fluchte, auch aus seiner Richtung kamen Kampfgeräusche. „Dämliche Ratte, lass mich los!" schrie der Dingo. Offenbar war auch Dan bei dem Überraschungsangriff vorerst überwältigt worden. „Und, du kleiner Pisser, was wirst du jetzt machen? Bist'n kleiner Schwanzlutscher, mehr nicht," geiferte Marcel. Er hatte Kiddy mit dem Bauch zu Boden gedrückt und saß auf ihm. Ein Knie drückte in seinen Rücken, ein Fuß stand schmerzhaft auf der Mitte von Kiddys Tail und pinnte diesen zu Boden. Mit den Pfoten rangelten beide um das soeben erst zusammengesetzte Handy. Der Fuchs würde den Kampf darum verlieren, aber in diesem Moment war die Welt um ihn herum so klar, wie noch nie. Er verließ im Geiste seinen Körper und stellte sich vor, wie der Marder auf ihm saß. Mithilfe der Stellen, an denen er Marcel spürte, versuchte er eine Schwachstelle für einen Gegenangriff zu finden. Und er fand eine. Marcel hatte soeben erfolgreich Kiddys Finger auseinandergedrückt und riss das Handy an sich, als der Fuchs unter ihm entschlossen seine Muskeln anspannte und seinen linken Arm unter dem Bauch herauszog. Der Schotter auf dem Gehweg schrammte ihn blutig, aber er achtete nicht darauf. Als der Marder sich aufrichtete, um seine Beute zu betrachten, nutzte Kiddy dessen hohen Schwerpunkt und drückte sich vom Boden ab. Gleichzeitig drehte er sich unter seinem Angreifer heraus. Dieser fluchte wütend und hatte keine Wahl, als sich seitlich auf den Boden fallen zu lassen. Marcels gesamtes Gewicht rollte über den Fuß ab, der den Fuchstail unter sich begrub. Kiddy wollte aus der Bewegung heraus aufstehen, aber als er sich mit Schwung erheben wollte, wurde er jäh zu Boden gerissen. Etwas knackte gedämpft in seinem Tail. Der Schmerz war sehr präsent und akut, aber durch die Aufregung spürte er ihn nur kurz. Marcel rollte sich ab. Trotz allem war er noch immer in der besseren Position, doch die Ausbeute schien ihm fürs Erste zu reichen. „Kit, wir verschwinden," verkündete er und trat Kiddy mit dem Fuß in die rechte Seite. Der hatte die Bewegung vorausgeahnt und seinen Arm schützend an seine Flanke gepresst. Es schmerzte trotzdem, war er doch noch immer angeschlagen von seinem Unfall mit dem Warenaufsteller. Zumindest bekam sein Körper nicht die volle Wucht des Trittes ab, aber es reichte um ihn für einen Moment zu lähmen. Marcel rannte ins Gebüsch. Hinter ihm stöhnte auch Dan auf. Kiddy zwang sich hoch, warf seinem Freund einen kurzen Blick zu und rannte ohne weiteres Überlegen dem Marder hinterher. Die Kampfgeräusche hinter ihm wurden sofort leiser. Nach einigen Schritten durch das Unterholz des Stadtparks hörte er Dans rufen: „Lauf! Hol dir das Schwein!" Mehr bekam er nicht mit. Er ging instinktiv davon aus, dass Dan die Ratte trotz seines lädierten Beines besiegen konnte. Vor ihm war Marcel mit seinen kürzeren Beinen in größten Schwierigkeiten, seinem Verfolger zu entkommen. Füchse waren von der Anatomie her schlichtweg die besseren Läufer. Kiddy fühlte sich derweil gut. Seine Schmerzen waren, zumindest im Moment noch, zu vernachlässigen. Alles, was er in diesem Moment wollte, war Marcel wehzutun. In ihm herrschte rasende Wut. Schon wieder war jemand angekommen, der ihm irgendetwas aufzwingen wollte, der sich als stärker als er aufspielte und genau so etwas würde er nicht mehr einfach dulden. Der Marder schlug Haken und rannte um Bäume herum, aber Kiddy ließ sich nicht abhängen. Seine Lunge brannte. Trotzdem gab er einfach nicht auf. Nach einer Minute hatte er ihn eingeholt. Marcel war aus dem Gebüsch heraus auf eine große Wiese gehechtet und hatte auf der freien Fläche seinen kompletten Vorsprung eingebüßt. Um diese Uhrzeit war so tief im Park kaum jemand unterwegs. Niemand sah daher, wie Kiddy sich am Ende der Grünfläche aus vollem Lauf heraus auf Dans alten Widersacher stürzte. Beide fielen in das nächste angrenzende Gebüsch. Marcel entglitt das Handy. Er war zwar langsamer im Rennen, dafür aber ungleich flinker, wenn es um Handgemenge ging. Geschickt hatte er sich abgerollt und stand schon wieder aufrecht. Von seiner letzten Begegnung mit den beiden Freunden war eine Platzwunde auf seinem Kopf geblieben, die begonnen hatte, abzuheilen. Kiddy war unangenehm auf seiner eh schon schmerzenden Seite gelandet und brauchte etwas länger. Diese Zeit reichte schon. Marcel drehte sich um und schlug Kiddy gegen die Schnauze, nur aus purem Glück erwischte er ihn nicht richtig. Im Gesichtsfeld des gepeinigten Fuchses explodierten dennoch Sterne. Die Klarheit, die ihm in den letzten Minuten zueigen geworden war, half zum Glück auch dagegen. Er schwang sich aus der Bewegung heraus hoch und hieb mit aller Gewalt seine Faust in die Magengrube des Marders. Der stöhnte unterdrückt. Kiddy wollte gerade erneut ausholen, da traf ein kräftiger Schlag seine eh schon angeschlagene Flanke. Marcel war einfach flinker. Aber er war schlauer. Er drehte die getroffene Seite stöhnend von seinem Gegner weg, sodass er leicht seitlich zu ihm stand. Er bot ein leichtes Ziel, aber genau das war seine Absicht. Sein Plan ging auf. Im Augenwinkel seines übertrieben gespielt schmerzverzerrten Gesichts konnte er sehen, wie der Marder erneut ausholte. Diesmal lag der Vorteil deutlich bei ihm. Als Marcel seinen Schlag ausführte, wich Kiddy aus und warf sein hohes Knie mit reichlich Schwung genau in die Bewegung hinein. Das Geräusch war dumpf und klang kläglich. Seinem Gegenüber wurde sämtliche Luft aus dem Körper gedrückt. Marcel sackte in sich zusammen und blieb in gekauerter Hocke. Er konnte nicht mehr atmen, offenbar hatte Kiddy unter Anderem den Solar Plexus getroffen. Marcel keuchte und hustete auf dem Boden. Der Kampf war vorbei, er war geschlagen. Zufrieden atmete Kiddy selber tief durch, hob dann das Handy auf und steckte es in die Tasche. Er wandte sich um, zu gehen. Dan kam ihm bereits entgegengehumpelt, er hatte keine neuen, sichtbaren Verletzungen. In seiner Pfote trug er etwas Graues, offenbar ein Stein, an dem Blut klebte. Mit erstaunlicher Gelassenheit stellte Kiddy sich vor, wie er die Ratte damit niedergeschlagen und sich aus dem Griff befreit hatte. Die Aufregung des Kampfes wich aus seinen Knochen und er entspannte sich. Jetzt kam der Schmerz in seinem Tail voll zur Geltung. Es stach ihn bei jeder Bewegung, wahrscheinlich hatte er sich etwas gezerrt, verstaucht oder gar einen Wirbel gebrochen. Er hielt ihn schonend herab und sah Dan entgegen. „Sieh mal!" Stolz hielt er das Handy hoch, als dieser noch einige Meter entfernt war. Er grinste breit. „Der Loser hatte keine Chance," übertrieb er. Dann hörte er hinter sich ein metallisches Klicken. „Ich zeig dir ‚keine Chance' du dummes Scheißkind!" Kiddy wirbelte herum. Marcel hatte sich ebenfalls etwas erholt. Den Kampf hatte er im Gegensatz zu Kiddy noch nicht als beendet eingestuft. In seiner Pfote ruhte ein offenes Springmesser. „Aaaaaaahhhh!" brüllte er und stürmte auf Kiddy zu. Der war wie gelähmt, die Überraschung war zu groß. Noch dazu fühlte sich das Handy störend an, in seinem Kopf hatte er dadurch nur eine Pfote frei. Er hatte keine Idee, wie er reagieren oder wegkommen sollte. Panik machte sich in ihm breit. Marcel war nur noch zwei schritte entfernt. *Thud* Das Gesicht des Marders wirbelte erst zur Seite, dann taumelte er und verdrehte die Augen. Als er bei Kiddy ankam, fiel er dem Fuchs nur noch leblos in die Arme. Der fing ihn auf und legte ihn in einer flüssigen Bewegung seitlich auf den Rasen. „G ... guter Wurf!" kommentierte Kiddy. Dan hatte Marcel den Stein zielgerichtet aufs Auge geworfen. Eilig steckte er das Klappmesser ein und zog Kiddy an der Pfote. „Der lernt's nie. Los, wir verduften." Wie schon bei ihrer ersten Begegnung mit dem Marder nahmen sie Reißaus und ließen die Besiegten zurück. „Weiß er eigentlich, wo du wohnst?" fragte Kiddy, als sie weit genug weg waren. „Nee, ich glaube nicht. Ich schätze, er wird uns zufällig gesehen und dann verfolgt haben." Der Dingo übernahm die Führung. Schnellen Schrittes verließen sie den Stadtpark. „Geht's?" Kiddy nickte. Er hatte Schmerzen an drei verschiedenen Stellen seines Körpers, aber nichts schien allzu schlimm zu sein. Seinen Tail hielt er beim Gehen in einer Schonhaltung von den Beinen weg. Außerdem half ihm zusätzlich der noch immer erhöhte Adrenalinspiegel, auch wenn dieser langsam zu Sinken begann. Sie brachten ein paar Querstraßen Distanz hinter sich, bis Dan sich umsah. „Hier, wir gehen da rein und kommen erstmal runter. Ich kenne eine Ecke, wo uns keiner findet, da kannste auch telefonieren." Er führte die beiden Freunde zu einem Einkaufszentrum und dann weiter auf das Parkdeck. Neben dem Eingang zu einem großen Ärztehaus, das oben auf das Einkaufszentrum gebaut war, gab es ein stillgelegtes Treppenhaus. Dort waren sie sichtgeschützt und es kam auch niemand in Hörweite vorbei. Sie warteten, bis beide sich so gut es ging, erholt hatten. Dan verschwand dann für zehn Minuten und brachte eine 0,5lFlasche Cola. Das kalte Getränk tat sehr gut. Abwechselnd leerten sie die Flasche. Kiddy fühlte sich in diesem Moment sehr behütet bei seinem Freund, erneut war ihm, als habe er in ihm einen großen Bruder gewonnen. Umso mehr schmerzte es, an das Handy und den zu tätigenden Anruf zu denken, der ihn wieder zurück nach Hause und damit mehrere Hundert Kilometer entfernt von Dan führen würde. Als hätte er seine Gedanken geahnt, fragte Dan ihn in genau diesem Moment, ob er seine Eltern jetzt anrufen wollte. Kiddy antwortete zuerst nicht, seine Vernunft musste ihn erst überzeugen. „M-hm, ja." Er holte zögerlich das Handy aus der Tasche und besah es sich genau. Dieses kleine Gerät würde das Ende ihrer Freundschaft einleiten, da war er sich sicher. Der Akku war ab Werk aus vorgeladen, es ließ sich einschalten. Kiddy entsperrte die SIM und tippte ohne weiteres Zögern die Nummer seines Elternhauses. Als es klingelte, pochte ihm das Herz bis zur Brust. Er hatte schreckliche Angst und ein Teil von ihm hoffte, dass niemand ran ginge. Mit der Linken ergriff er Dans Pfote und drückte sie. Es half ein wenig. *Knack* „Hallo? Erik?" Es war die Stimme seiner Mutter. Sie klang verheult. „Ja, Mama ich bin's." Auch er musste weinen. Für eine halbe Minute schluchzten beide nur in Telefon. Von der anderen Seite hörte er ein Rascheln und dumpfe Stimmen. Dann knisterte es und sein Vater war am Apparat. „Junge, deine Mutter kann grad' nicht sprechen. Geht es dir gut? Wo bist du?" „M-hm, geht mir gut." Kiddy quetschte die Worte heraus und gleichzeitig die Pfote von Dan, der sie verständnisvoll hinhielt. „Wo bist du?" fragte sein Vater erneut. Er klang nicht wütend, eher besorgt. „In ... Berlin." „BERLIN?" Das Entsetzen war nicht zu überhören. „Okay, wo genau? Wirst du dort festgehalten?" „Nein ... nicht." „Du wirst nicht festgehalten?" versicherte sich sein Vater. „Nein." „Was machst du in Berlin?" Eine Pause. „Bist du von alleine angehauen?" „Mmmm ... ja." Erneut schluchzte Kiddy wieder, als er dies gestand. Am anderen Ende der Leitung kämpfte auch sein Vater hörbar mit den Gefühlen. Womöglich gestikulierte er auch nebenbei seiner Mutter zu. „Okay, wo bist du, wir holen dich ab. Dann bereden wir alles, hörst du? Aber komm bitte erstmal wieder nach Hause!" „Okay. Ich bin ..." Er sah Dan fragend an. „Am Hauptbahnhof, Südeingang, Bäckerei Sarin, gelb-blaues Schild." Kiddy wiederholte und sein Vater sprach Silbe für Silbe mit. Er notierte. „Gut, wir sind in ... er rechnete ... drei bis vier Stunden da, rühr dich nicht vom Fleck!" „Okay." Am anderen Ende raschelte es wieder, diesmal wilder. Seine Mutter hatte sich den Hörer gegriffen und startete einen wilden Redeschwall. „Wir sind auf dem Weg, hörst du? Wir kommen so schnell wie möglich. Geh mit keinem mit, mein Schatz. Oh wir haben uns so Sorgen gemacht. Ich hab dich lieb. Bis nachher." Damit legte sie auf, vermutlich war der Drang, schnell loszufahren, größer. Kiddy legte das Handy in seinen Schoß. Das war es also. Seine großartige Flucht, sie hatte nur eine knappe Woche gedauert und ging unter Tränen zu Ende. Er ließ Dans Pfote los. Ihm ins Gesicht zu sehen schaffte er jedoch nicht. Stattdessen konzentrierte er sich auf den Schmerz in seinem Tail, seinem Gesicht und auch in Arm und Flanke. Er ließ ihn regelrecht wirken. Dan schwieg und wischte nur verlegen an seiner Pfote rum. „Was wird jetzt aus dir?" fragte Kiddy nach einer Weile, die beiden wie eine Ewigkeit vorkam. „Ich komm schon klar." Dan zwinkerte ihm zu. Doch trotz seines Grinsens erkannte der Fuchs, dass auch sein Freund damit nur seine wahre Trauer überspielte. „Wir können uns ja schreiben," schlug Kiddy vor. Etwas Besseres fiel ihm im Moment nicht ein. „M-hm. Das machen wir." Sie saßen noch längere Zeit in dem kühlen Treppenhaus, bevor sie sich gemeinsam erhoben. Sie gingen zu Dans Wohnung. Nun, da seine Eltern auf dem Weg waren und schon innerhalb der nächsten zwei Stunden hier sein würden, sah er alles in einem anderen Licht. Er hatte dem Dingo gegenüber ein schlechtes Gewissen. Schon bald würde er nach Hause zurückkehren, in sein behütetes Jugendzimmer mit festen Essenszeiten. Sogar für die Schule und die Freunde, die auf ihn warteten, schämte er sich. „Du haste's verdient, warst eine super Hilfe." Dan versuchte, ihn aufzumuntern, aber es half nichts. Die Stimmung, bis Kiddy alle seine Sachen verpackt hatte, war gedrückt. Als nach einer weiteren Stunde sein Handy plötzlich klingelte und seine Mutter ihm mitteilte, dass sie in 20 Kilometern schon bei der Abfahrt sein würden, kam der Moment des Abschiedes viel zu plötzlich. Der überforderte Fuchs fühlte sich um seine geplante Zeit mit Dan betrogen. Er war voller zwiespältiger Gefühle, wollte er doch weder seine Mutter noch den Dingo enttäuschen. Er schaffte es nicht mal, auf seinen so netten Gastgeber zuzugehen und sich zu verabschieden. Beide waren sich einig, dass Dan komplett im Hintergrund bleiben müsste, um nicht wieder im Heim zu landen. Also trat dieser auf den zitternden Vulpinen zu und drückte ihn fest an sich. „Ich wünsche dir alles Gute, du schaffst das schon. Du bist sehr tapfer, das hast du bewiesen." Kiddy weinte schon wieder. „Danke." Er schluckte, bevor er weitersprechen konnte. „Dir auch alles Gute. Und danke für alles." „Kein Problem, hat mir Spaß gemacht." „Mir auch." Kiddy drückte zurück. Noch nie hatte er sich mit jemandem Anderem so verbunden, so vertraut gefühlt, die Zuneigung der beiden war viel mehr als er in seinem Leben mit anderen Freunden erfahren hatte. Daher war es nicht verwunderlich, dass der junge Fuchs den Schritt aus der Tür nicht ohne Dans Hilfe hätte tun können. Der löste die Umarmung irgendwann und begleitete Kiddy die Blocks der Nebenstraße entlang. Den Weg über merkte er, wie sein Tail in den letzten Stunden schmerzhaft angeschwollen war. Zusätzlich tat ihm seine Schnauze weh und er hatte ein Stechen in der Seite beim Atmen. Das alles müsste jedoch erstmal warten. Erst als der Hauptbahnhof zu sehen war, blieb Dan stehen. „Ab hier bleib ich im Hintergrund, ich habe dich aber im Auge," versprach er. „Gute Reise und entschuldige dich bei deinen Eltern auch, okay? Die haben einen ganz schönen Schreck bekommen. Schätze, du hast dein Ziel erreicht." „Hmm, ja scheint so," überlegte Kiddy. „Tschao!" Er wandte sich dem Bahnhof zu und drehte sich mehrere Male auf dem Weg zum Südeingang mit dem beschriebenen Bäcker um. Dan stand im Schatten der Seitenstraße und winkte, immer wenn Kiddy zu ihm zurückblickten. Dann sah er seine Mutter. Sie schaute aufgeregt durch die Menge von Leuten, die an dem Bäcker vorbei gingen. Ihr Anblick erfreute und schüchterte ihn zugleich ein. Langsam ging er auf sie zu. Sie erblickte ihn, als er etwa 10 Meter von ihr entfernt war. Sofort rannte sie los und schloss ihn in die Arme. Der vertraute Geruch und ihre wohltuende Umarmung hielten alle Sorgen in diesem Moment fern von ihm. Die Tränen standen ihm dick und heiß in den Augen. „Mama!" „Erik, mein Schatz. Geht es dir gut? Was hast du bloß gemacht?" Sie hielt sein Gesicht vor ihres und inspizierte es besorgt. Offenbar sah man ihm die Spuren des Kampfes noch an. Er selber hatte noch nicht in den Spiegel geschaut. „Es ist alles nicht so schlimm." Er schaute auf seinen geknickten Tail, den er in Schonhaltung hielt. Seine Mutter stöhnte entsetzt auf. „Komm, wir gehen zu Papa, der wartet im Auto und dann kannst du uns alles erzählen. Und zu Hause gehen wir damit zu einem Arzt. Oder sollen wir hier in ein Krankenhaus fahren? Wir können auch hier ..." „Nicht nötig!" unterbrach Kiddy sie. Er wollte nicht einem möglichen Marcel mit dickem Gesicht und blauem Auge in irgendeiner Notaufnahme über den Weg laufen. Wer weiß was dann passieren würde. „Es geht schon." „Na gut, aber sag, wenn es schlimmer wird. Hast du überhaupt was gegessen? Und wo hast du geschlafen? Oh mein armer Junge." Sie hatte sich in Bewegung gesetzt und zog ihn fast, als habe sie Angst, dass er ihr erneut entglitt, hinter sich her. Er ließ sie gewähren. Im Augenblick war Kiddys eigener Wille erloschen, er war nur froh wieder ‚zu Hause' zu sein. Als er sich im Laufen noch mal umdrehte, war Dan verschwunden. Kiddy wurde plötzlich sehr traurig. So sehr er sich auch bemühte, er fand den Dingo nirgends und mit jedem Schritt entfernte er sich mehr von der Hausecke, an der sein ihm so vertraut gewordener Freund zuletzt gestanden hatte. Die Begrüßung seines Vaters und die gesamte Rückfahrt nach Hause nahm er nur durch dicke Wolken aus Traurigkeit wahr. Nichts, auch nicht die Zusage, dass er keinen Ärger bekommen würde, wenn er ihnen nur die Gründe seines Ausreißens erzählen würde oder auch die Ankunft in seinem Jugendzimmer konnten dies überdecken. Gemeinsam fuhren sie vorher noch in ein Kreiskrankenhaus, wo Kiddys Tail untersucht wurde. Zwei Tailwirbel waren verknackst und er hatte sich irgendwelche Sehnen überdehnt. So genau wollte der junge Fuchs es gar nicht wissen. Sobald er den Stützverband angelegt bekommen hatte, zog es ihn nur noch in die Geborgenheit seines eigenen Bettes, daher versprach er, seinen Eltern am nächsten Tag alles zu erzählen, wenn er für heute nur früh schlafen gehen dürfte. Er durfte. Und das tat er. Sein Abenteuer ‚Ausreißen und alleine leben' war viel früher und abrupter zu Ende gegangen, als er erwartet hätte, jedoch hatte er in den wenigen Tagen viel gelernt. In Zukunft würde er es bestimmt in manchen Belangen leichter haben, Entscheidungen seiner Mutter oder seines Vaters zu verstehen. Auf der anderen Seite hatte er auch einen gewissen Standpunkt klar gemacht, er würde ihnen erzählen, wie gut er auch auf Dauer sein Leben selbstständig im Griff gehabt hätte. Das verlieh ihm, so hoffte er, auch einen besseren, erwachseneren Standpunkt seinen Eltern gegenüber. Als er endlich alleine auf seinem Zimmer war, kuschelte er sich in sein Kissen und dachte an Dan. Er vermisste den Dingo sehr, sein Rucksack und alle seine Klamotten rochen noch nach ihm. Auch von ihm würde er seinen Eltern erzählen. Sie sollten erfahren, wie toll er sich um ihren Sohn gekümmert hatte. Sie hatten zusammengearbeitet, Spaß gehabt, Kämpfe durchgestanden, hatten sich gegenseitig ausgeholfen, hatten zusammengekuschelt geschlafen und hätten wahrscheinlich auch in Zukunft alles miteinander geteilt und erlebt. Wie es jetzt ohne ihn weitergehen sollte, wusste er nicht. Gleich morgen, so nahm Kiddy sich vor, würde er ihm schreiben.

Epilog: vier Monate später

„Mama, ich bin zu Hause!" Kiddy kam durch die Tür gewirbelt, stürmte die Treppe hoch und warf seinen Rucksack aufs Bett. „Erik, nicht so wild! Das ist eine alte Holztreppe, das weißt du doch." Die Stimme seiner Mutter kam von unten aus der Küche. Das ganze Haus roch nach Backwerk. Es war der 19.12. Ein ganz besonderer Tag. „Darf ich in die Küche?" brüllte der Fuchs die Treppe runter. Heute war Kiddys Geburtstag, er wurde 14 Jahre alt. Heute Morgen hatte er noch keine Geschenke bekommen, seine Mutter hatte ihn auf die Zeit nach der Schule vertröstet. Obwohl beide seit gestern Urlaub hatten, war sein Vater vor ihm aus dem Haus gewesen. „Noch nicht mein Schatz." Warte bis Papa da ist, dann darfst du runter. „Okay!" Er setzte sich an seinen Schreibtisch und fuhr seinen Laptop hoch. Es dauerte ewig, aber das kannte er schon. Vielleicht fuhr sein Vater ja gerade zu Media Markt, um ihm eines dieser neuen Geräte mit Flashspeicher zu kaufen? Vielleicht bekam er ja auch ein Tablet-PC? Den ganzen Tag hatte er darüber gegrübelt, was sie wohl vorbereiteten, so geheimnisvoll war noch keiner seiner Geburtstage abgelaufen. Endlich fuhr seine ‚Krücke' hoch. Heute würde Dan einen weiteren Brief von ihm bekommen. Seit seiner Zeit bei dem Dingo hatte er seinen Eltern fast jeden Tag von seinem Freund in Berlin erzählt. Bisher hatte er ihm acht Briefe geschrieben, aber seit einem Monat war von Dan aus nun schon Funkstille; er antwortete nicht mehr. Kiddy machte sich Sorgen, er hatte in seinem letzten Brief über seinen bevorstehenden Geburtstag berichtet und eine kleine Überraschung versprochen: Er hatte so lange nicht locker gelassen, bis seine Eltern ihm zugesagt hatten, dass er von seinen Geldgeschenken einen Teil direkt ausgeben dürfe. Damit wollte er Dan zum kommenden Weihnachtsfest etwas Schönes kaufen und mit der Post schicken. Morgen, am 20.12. würde er mit seinem Geld losziehen und was Passendes besorgen. Was genau, das wusste er selber noch nicht. Alles, was er wusste, war, dass Dan ihm sehr fehlte und, dass Briefe die Lücke zwischen ihnen nur unzulänglich schlossen. Immer wieder hatte er in den letzten Monaten seine Eltern zu überzeugen versucht, nach Berlin zu fahren, damit er Dan besuchen könnte, aber immer war etwas Anderes wichtigeres dazwischengekommen. Oder sein Vater war mit dem Auto auch an den Wochenenden unterwegs, oder, oder, oder ... An einem Punkt war Kiddy sogar kurz davor gewesen, erneut abzuhauen, um einfach mit dem Zug sein Glück zu versuchen und eventuell erneut unkontrolliert nach Berlin zu kommen, aber er hatte versprochen, nicht mehr abzuhauen. Im Gegenzug hatten seine Eltern ihm zugesagt, dass sie alles versuchen würden, dass er Dan bis zum neuen Jahr noch ein Mal sehen könne. Das neue Jahr war allerdings nicht mehr weit weg. Und die kommenden Tage waren voll mit familiären Verpflichtungen rund um seinen Geburtstag und Weihnachten. Das bedeutete, Omas und Tanten, ihm ins Wangenfell kniffen, ihm über die Ohren puschelten, aber wenigstens am Ende einen Zehner oder Zwanziger zusteckten. Als auch Word endlich aufgegangen war, öffnete Kiddy den bereits angefangenen Brief für Dan und begann zu tippen. Er berichtete über Dies und Jenes, wie Schule, Freunde, Familie. Allzu viel schöne Details über seine kommende Geburtstagsfeier wollte er nicht schreiben, er befürchtete, dass sein Freund ab einem gewissen Grad nur traurig oder gar neidisch werden würde. Er tippte eine halbe Stunde lang. Zwischendurch schweifte er mit seinen Gedanken immer wieder ab. Ob er genug Geld bekam, um Dan einen Computer zu schicken? Oder vielleicht ja seinen Alten. Dann können sie eMails schreiben oder Skype benutzen. Er hatte seine Eltern in den vergangenen vier Monaten schon Vieles gefragt, auch, ob sie Dan nicht ein Telefon bezahlen würden. Leider schienen sie seit sechs bis acht Wochen immer weniger von seinem Dingofreund hören zu wollen. Oft blockten sie Gespräche über ihn kategorisch ab. Kiddy hatte sich vorgenommen, das alsbald Thema anzusprechen. Immerhin nahmen sie ihn seit seiner Ausreiß-Aktion wesentlich ernster, als noch davor. Unten hörte er die Haustür knallen. Sein Vater wahr zu Hause. Endlich! Gleich dürfte er endlich seine Geschenke und den Geburtstagskuchen sehen. Seine Mutter hatte sich offenbar viel Mühe gegeben. Er hörte seine Eltern durch die halb geöffnete Tür reden. Schnell (wenn man das an seinem Laptop so nennen konnte) druckte er noch den Brief aus und legte ihn auf den Schreibtisch. „Hallo Papa, darf ich jetzt runter kommen?" fragte er erwartungsvoll. Er hoffte, dass sein Vater jetzt nicht auch erst noch mit Geschenkpapier losrascheln würde. „Ja, darfst du. Wir sind im Wohnzimmer." Kiddy knallte den Deckel seines alten Toshibas zu und stürmte die Treppen runter. Der Dämpfer kam unmittelbar. „Aber nicht so wi-hild!" ermahnte seine Mutter. Sein Vater begrüßte ihn und ging noch mal schnell ‚zum Auto' wie er es nannte. Kiddy setzte sich auf die Wohnzimmercouch und hibbelte. Auf dem Tisch standen drei Gedecke für Kaffee und Kuchen. Verwandte und Freunde wurden erst am Wochenende erwartet, heute war ruhiger Familiengeburtstag. Nach kurzer Zeit kam sein Vater wieder rein und grinste breit. „Na, bereit?" fragte er seinen Sohn. „M-hm, ja bin ich." Kiddy hatte richtiggehend Probleme, seine Ungeduld zu verbergen. „Bevor wir deinen Geburtstag richtig feiern, wollten deine Mutter und ich noch mal mit dir reden." Er blickte plötzlich sehr finster und seine Mutter sah nur quer durch den Raum. Hatte sie etwa Angst, ihm in die Augen zu schauen? Auch der Tonfall seines Vaters machte ihm Sorgen, es klang ernst. „Wir wissen, wie sehr du Dan vermisst. Es vergeht ja kaum ein Tag, an dem du nicht etwas für ihn schreibst oder über deine Zeit mit ihm in Berlin schwärmst. Am liebsten würdest du wahrscheinlich jedes Wochenende zu ihm fahren." Kiddy überlegte, das traf es in etwa. War er wirklich so leicht zu durchschauen? „Ich verstehe das," fuhr sein Vater fort. „Ich bin selber früh zu Hause ausgezogen und habe in dieser Zeit meine WG-Partner und Freunde über alles Andere gestellt." Der junge Fuchs saß mit leicht zitternden Pfoten und gekringeltem Tail auf der Couch und versuchte, eine positive Tendenz in diesem Gespräch zu erkennen. Es gelang ihm nicht. Warum mussten sie ihm denn jetzt an seinem Geburtstag mit so einer Moralpredigt kommen? „Die letzten Monate sprichst du ja auch von fast nichts Anderem mehr. Viele Freunde hattest du ja eh nie, aber uns kommt es so vor, dass du die wenigen Guten (eine klare Anspielung auf Pascal) jetzt auch noch vernachlässigst." Damit hatte er Recht, in den letzten vier Monaten hatte Kiddy lieber an Briefen für Dan geschrieben, als sich mit seinen Freunden zu verabreden. Abends im Bett las er die Antworten von Dan, manchmal gleich mehrfach. Es war, als sei er durch die Trennung von ihm nie wieder vollständig zu Hause angekommen. „Uns ist wichtig, dass du verstehst, dass auch wir nicht mal eben so nach Berlin fahren können. Überhaupt scheint diese Distanz für eine Freundschaft in eurem Alter sehr groß zu sein. Wir finden, du solltest lieber in der Lage sein, dich hier, wo du wohnst, auf dein Leben zu konzentrieren. Das scheint für dich momentan sehr schwer zu sein. Du brauchst Dan und er braucht dich, es ist, als habt ihr Zwei euch gesucht und gefunden. So etwas ist selten. Jedoch denken wir, Dan braucht außer einem gelegentlichen Brieffreund und der Erinnerung an ein paar schöne, gemeinsame Tage noch mehr; für ihn sind solche Dinge wie ein Zuhause, Schulbildung, Regelmäßigkeit und Beständigkeit, viel wichtiger, um überhaupt eine Perspektive im Leben entwickeln zu können." Ja, das klang jetzt vollends nach seinen Eltern! „Und das kannst du ihm mit einer Brieffreundschaft allein nicht bieten." Er machte eine Pause und ließ die Worte wirken. „Erst wollten wir dir einen Gefallen tun und über Weihnachten nach Berlin fahren. Ich meine so richtig bis Neujahr, die ganze Woche lang. Wir dachten, das hätte dich bestimmt gefreut ..." Das folgende ‚Aber' konnte Kiddy schon förmlich hören. Seine Stimmung sank. Der Geburtstag kam ihm plötzlich zweitrangig vor. Er schaute zu Boden und dachte an Dan; wie er wohl die Weihnachtsfeiertage verbringen würde?! Sein Vater holte ihn jäh und unangenehm zurück in die Wirklichkeit. „Aber diese Idee hatten wir bereits im Oktober und seitdem ist viel Zeit vergangen. So Einiges hat sich seitdem geändert." Seine Mutter übernahm plötzlich das Gespräch. Irgendetwas stimmte nicht, sie war nervös, das spürte Kiddy. Innerlich verkrampfte er sich. „Dein Vater und ich haben uns schließlich dagegen entschieden." Sie klopfte von innen an die Wohnzimmertür. Eine ungewöhnliche Geste. „Stattdessen ..." Kiddy traute seinen Augen nicht. Völlig unvermittelt trat Dan ins Wohnzimmer. Er trug seinen Rucksack auf dem Rücken und strahlte, als er seinen Freund erblickte. „DAN!" Der junge Fuchs war nicht zu halten, er sprang auf, hastete um den Tisch und sprang dem armen Dingo förmlich in die Arme. „Du bist hier!" Er drückte ihn kräftig an sich. Die Wärme, die er abstrahlte, das weiche Fell an seinem Hals und sein markanter Geruch ließen die Gefühle in ihm hochbranden. Freudentränen standen dick und heiß in seinen Augen. „Hier bei mir?!" „Ja, schön, nicht?" Die beiden lösten ihre Umarmung und Kiddy rang mit seiner Fassung. Das Herz schlug ihm wie wild, so aufgeregt war er. „Aber wie ...?" „Ganz einfach," antwortete sein Vater. „Ich habe ihn heute früh abgeholt. Dan bleibt zwei Wochen bei uns, dann muss er erstmal wieder zurück und sich für die nächsten Monate drei Mal pro Woche in einem Jugendpflegeheim melden. Wir müssen zwar noch jede Menge Papierkram bewältigen, aber wenn die Probewochen gut verlaufen, steht uns nicht mehr viel in Wege." „Probewochen?" Kiddy verstand die Welt nicht mehr. „Was für Probewochen? Und wieso Heim, ich dachte, du ..." Bestürzt sah er Dan in die Augen. Was war passiert, weswegen Dan sich bei einem Heim melden sollte? „... hasst Heime?" Seine Mutter ergriff das Wort: „Dein Vater hat die letzten zehn Wochen lang immer wieder mit Jugendämtern hier und in Berlin Kontakt gehabt. Zwei Mal war er sogar dort. Sollten wir die Probewochen gut überstehen, haben sie eingewilligt, dass Dan zu uns als Pflegefamilie kommen darf, aber nur so lange, bis die große Überprüfung fertig ist. Kiddy war jetzt völlig überfordert. Pflegefamilie; wir? Und welche große Überprüfung? Er holte gerade Luft und wollte diese beiden Fragen aussprechen, als ..." „Deine Eltern haben eingewilligt mich zu adoptieren!" platzte Dan schließlich heraus. Der Dingo hatte die Anspannung nicht länger ertragen. „Aber ... wie? Wie habt ihr ...? Kiddy war sprachlos. Seine Augen flimmerten. Er brauchte definitiv eine Erklärung. Sein Vater lieferte sie ihm: „Du warst so begeistert von Dan, hast so viel berichtet. Dieser Dingo hier ..." er wuschelte Dans Kopf „... hat so viel Eindruck auf dich gemacht, dass sich dein halber Alltag nur noch um ihn dreht. Erst dachten wir noch ‚das geht vorbei'. Doch als du ihn uns an einem Abend im Oktober, glaub' ich war's als ‚wie einen großen Bruder' beschrieben hast, haben wir uns kurz darauf darüber unterhalten, was wäre wenn ...? Um es kurz zu machen: Wir haben ein Zimmer übrig und genug Geld verdienen wir auch. Außerdem schulden wir ihm ja auch Einiges. Immerhin hat er dir gleich mehrfach das Leben gerettet, wie's scheint. Irgendwann habe ich dann zum Telefon gegriffen und die Handynummer gewählt ... und Dan ging ran." „Das Handy!" wurde es Kiddy plötzlich klar. „Ich habe geglaubt ihr habt die Nummer nicht mehr. Das habt ihr mir doch gesagt." Seine Eltern grinsten beide. „Überraschung!" kommentierte sein Vater. „Ooooohhh danke, danke, danke!" Völlig überfordert drückte er erst seine Mutter und dann seinen Vater und Dan ein zweites Mal. Er inhalierte den exotischen Duft des Dingos, als er sich in sein Schulterfell grub, wie um sich zu vergewissern, dass er auch wirklich hier war. Was für tolle Eltern er doch hatte. Seine Mutter bekam ihn schließlich dazu, dass er sich von ihm löste: „Du willst doch immer ach-so groß und verantwortungsvoll sein, oder?" Kiddy nickte. „Dann sei doch bitte mal ganz groß und hol' Dan verantwortungsvoll ein weiteres Gedeck," neckte sie. Alle lachten und Kiddy rannte los. Um normal zu gehen, war er viel zu aufgeregt. Es war eine herrliche Geburtstagsfeier. Dan und seine Eltern verstanden sich blendend. Sie unterhielten sich über die gemeinsame Zeit in der Behausung des Dingos, seine Mutter gab einige lustige Anekdoten des Welpen Erik zum Besten, die ihm aber zum Glück keine heißen Ohren oder Schamesröte bereiteten. Gemeinsam aßen sie Kuchen, auf dem mit buntem Zuckerguss ‚Happy Birthday Kiddy und Willkommen Dan!' geschrieben stand. Darum also sollte er ihn nicht vorher schon sehen. Kiddy war sehr stolz auf seine Eltern. Ein Teil von ihm schämte sich, dass er ihnen für einen so dummen Streit (worum war es vor 4 Monaten noch gleich gegangen?) in so viel Leid und Trauer gestürzt hatte, indem er ohne Vorwarnung weggelaufen war. Er nahm sich vor, so etwas nie wieder zu tun. Die nächsten zwei Wochen vergingen wie im Flug. Dan blühte förmlich auf in seiner zukünftigen Familie. Auch die Verwandtschaft, die über die Feiertage kam, akzeptierte das neue Familienmitglied. Jetzt hatten die Tanten und Omas einen Kopf mehr, dem sie die Ohren und Haare puscheln und in die Wange kneifen konnten. Kiddy musste grinsen, als er Dans grummeligen Gesichtsausdruck nach dem - bestimmt - zehnten Betätscheln sah. Nach den Feiertagen zeigte er seinem Freund die Gegend, sie stapften auf der dünnen, puderzuckerartigen Schneeschicht durch die Wälder, die das Haus umgaben, spielten Verstecken wie junge Welpen, etwas XBox, aber auch mit den Eltern ‚Monopoly - Fox Edition'. Silvester blieben sie bis fast 4 Uhr morgens auf und zündeten einen ganzen Schinken Knaller rund ums Haus. Abends lagen sie in Kiddys Zimmer und unterhielten sich über ihre Zeit in Berlin. Sie schmiedeten Pläne, wo sie überall hinfahren und was sie noch alles gemeinsam unternehmen würden. Für Dan wurde ein Traum wahr. Schon immer hatte er sich gewünscht in einer Familie zu leben, auch wenn er das erst Monate später zugab. Für Kiddy war es, als habe er tatsächlich von einem Tag auf den Anderen einen großen Bruder, mit dem er sich blendend verstand, jedoch behielt auch er dies vorerst für sich. Als der Moment des Abschieds gekommen war, hatte er - so hoffte er - endlich seine Tränen im Griff. Bis Mitte Februar würde Dan in Berlin bleiben, dann sollten die Behörden alle benötigten Schritte erledigt und Papiere sowie Prüfunterlagen vorliegen haben, hatte sein Vater angekündigt. Erst dann würde der Dingo bei ihnen als Pflegefamilie einziehen können. Bis es so weit war, hatte Kiddy versprochen, das Gerümpelzimmer, das im Obergeschoss direkt neben seinem lag, mit der Hilfe seines Vaters leerzuräumen und zu renovieren. Dan durfte sich sogar die Farben für sein neues Zimmer aussuchen. Das war toll, im Baumarkt hatte er beim Aussuchen des Teppichs auch das erste Mal vor Rührung geweint und Kiddy durfte ihn trösten. Ebenso im Möbelhaus, wo er sich mit feuchten Dingoaugen ein brandneues Bett und einen Schreibtisch aussuchen durfte. Als Kiddys Mutter dann noch Regale, Sitzkissen und einen kleines Beistelltisch auf den Einkaufstrollie packte, fragte er nur: „Alles für mich?" Und als sie die Frage bejahte, liefen ihm erneut dicke Tränen die Nase hinab und er drückte sie dankbar. Sie versprach, sich zum Beginn des neuen Jahres dann auch um die Schulanmeldung kümmern. Als die ganze Familie Dan schließlich Anfang Januar nach Berlin gefahren hatte, verabschiedeten die beiden Jungs sich wieder mit einer Umarmung. Kiddy hatte sich inzwischen daran gewöhnt, mit Dan kam es ihm gar nicht mehr schwul oder irgendwie unangenehm vor, nicht mal, wenn ihm seine Freunde dabei zusahen. Im Gegenteil, er genoss es richtig. „Mach's gut, Dan. Wir sehen uns ja bald wieder. Und tu mir einen Gefallen; halte dich von Marcel fern. Ich habe Angst, dass dir sonst noch etwas passiert." Dan winkte ab. „Ach der! Der's in Jugendhaft; ist beim Klauen erwischt worden und hat auch noch den Ladendetektiv angegriffen. Ich sag's ja, der lernt's nie." „Da bin ich erleichtert. Ich könnt's nicht ertragen, wenn dir etwas passiert." Jetzt, im letzten Moment ihrer Verabschiedung fiel es ihm doch sehr schwer, Dan gehen zu lassen. „Ich auch nicht," bestätigte dieser. „Dann also ..." er schluckte. „... alles Gute?!" „Ja," antwortete Dan. „Bis Februar ... Bruder!" Er löste die Umarmung und stieg die Stufen herunter. Ein letztes Mal winkte er dem Fuchs noch zu und verschwand dann durch seine Wohnungstür. ‚Bruder' klang es in Kiddys Kopf nach. Er war sehr gerührt. Eine einzelne Freudenträne schaffte es schließlich doch durch seinen Schutzwall. Er wischte sie beiseite. Sein Magen rumorte zwar, aber zugleich kribbelte er auch voller Vorfreude, Dan bald für immer bei sich zu haben. „Bis Februar ... Bruder," flüsterte auch Kiddy.