Wechselwirkung - Teil 3 - Gedanken und Gesparäche
#4 of Wechselwirkung
Teil 2 der Kerngeschichte. Ja, das Kapitel endet wirklich dort ;)
Viel Spaß beim Lesen und schönes Wochenende ^.^
Ein Rascheln weckte ihn das erste Mal. Nick döste weiter. Kurz darauf ertönte eine Klospülung aus dem Flur. Diesmal grummelte der Kater und öffnete die Augen einen Spalt. Er bereute es sofort: die Sonne schien nicht direkt auf sein Gesicht, dafür aber auf helle Bettwäsche und die Wände. Das Licht drang unbarmherzig grell in seinen Kopf ein, brannte sich in seine Netzhaut und legte unmissverständlich fest, dass die Nachtruhe damit vorbei war.
Ein Schatten huschte vor ihm entlang, die Silhouette von Florian passierte sein Gesichtsfeld. Im Gegenlicht leuchtete sie wie die Sonne bei Sonnenfinsternis, dunkel mit einer hellen Umrandung. „Morgen," begrüßte sie ihn.
„Mor`n."
„Gut geschlafen?"
„Joar, wie`n Stein."
Es folgte eine kurze Pause, in der der Kanide sein Shirt anzog. Nick war noch nicht wach genug, um groß darauf zu reagieren.
„Wann war ich eigentlich weg? Ich weiß nur noch, dass ich über ... Drachen? ... geredet habe."
„M-hmh." Der Kater gähnte und nickte, dann kam die Erinnerung auch zu ihm zurück. Die Decke, sein Beinahe-Erwischtwerden, und ‚die Frage'. Er war kaum wach, der Tag ging gerade erst los und schon überfiel sein Verstand ihn mit diesem blöden Thema.
Er dachte darüber nach. Vermutlich hätte er mehr Ruhe, wenn er Antworten von Flo bekäme. Also, sollte er sie stellen? Gleich jetzt und hier? Er schaute den jugendlichen Colliekörper prüfend an. Das Ergebnis überraschte weniger, nervte ihn dafür umso mehr an: Sexy, ja, auf jeden Fall - Sexy und geheimnisvoll, verführerisch. Dies Shirt, das die Unterhose verdeckte, das scheinbare Nichts darunter ...
NEIN! Und dann doch wieder nicht: Er. War. Nicht. Schwul! Genervt rieb er sich die Augen. ‚Verf ... fickte Scheiße! Was geht`n ab mit mir?'
Er zitterte schon wieder vor Anspannung. Das lag bestimmt alles an der Großen Unbekannten. Die Geheimnistuerei von Florian, die war`s bestimmt. Die war schuld!
‚Frack!'
Na grandios, jetzt dachte er schon in BSG-Flüchen. Er musste den Kopf klar kriegen. Klare Fakten, klare Gedanken. „Flo?"
„M-hmh?"
„Wieso bist du ... du ... schwul?" Na bitte, der Anfang war gemacht. Und er hatte es sogar ausgesprochen.
Keine Antwort, keiner bewegte sich.
„Ich mein`, weißt schon, wieso bist du dir da sicher?"
Als sein Freund immer noch nicht reagierte, fügte er hinzu: „Du wolltest es mir sagen, wenn ich frage!"
Endlich bewegte sich der Collie. Sein Tail hatte sich eng an seinen Rumpf gepresst, und die Ohren lagen an. Er setzte sich, sodass das Shirt hoch rutschte und das untere Ende seiner Boxershorts freigab. Dieses Mal achtete keiner von beiden darauf. „‚Vielleicht', habe ich gesagt." Mist! Ja, das stimmte.
„Wir kennen uns erst ... was? Zwei Wochen?"
„Anderthalb."
„Anderthalb," wiederholte Flo wie in Trance. „Ich sollte ... ich hätte dir schon das Erste nicht erzählen sollen. - Das Orange", flüsterte er. Eine Pause. „War ´ne Scheißidee!"
Eine ganze Zeit lang musterte er seinen Freund, selber ausdruckslos. Dann schnaufte er resigniert aus und sank leicht in sich zusammen. Nick presste nur beschämt seine Lippen aufeinander. Etwas zog in seinem Bauch.
„Willst du`s wirklich wissen?" Er blickte dem Kater tief in die Augen, fast schon flehend und irgendwie betrübt.
Den kostete es all seine Selbstbeherrschung zu nicken und er musste die Luft anhalten, um nicht zu zittern, hielt dem Blick jedoch stand.
Und dann erzählte Flo, wie er bei einer aus dem Ruder gelaufenen Geburtstagsfeier - dem Achtzehnten seines Bruders - in einem Club gelandet war. Dem Club Orange. „Das is` wohl sonst so ein ‚normaler' Table-Dance-Schuppen, weißt schon ..." Er suchte nach dem richtigen Wort. „... hetero halt." Dabei zeigte er auf Nick. Der Kater bekam einen Anflug schlechten Gewissens, der sich aber nicht festsetzte. Flo fuhr fort. „Naja, den Tag halt nicht. Es war Anfang der Ferien, ein Mittwoch." Der Kanide ließ den Kopf sinken und starrte auf den Teppich. „Da ist da immer ... Gay-Abend. So heißt das. Nur Typen ..."
„Ich bin reingekommen mit einem gefälschten Ausweis und als Dan und alle sich dann verpisst hatten ... „ Seine Finger zupften ziellos am Saum seiner Boxer Shorts. „Die ha'm mich da reingeschleppt, obwohl ich erst gar nicht wollte. Und dann sind sie ohne mich abgehaun, ha
m mich einfach vergessen. Mit ein` Mal war ich da alleine." Er schaute zu Boden. „Doch dann ... hab ich mich da umgesehen. ´S war ganz cool- und echt ... locker. Ich wollte da nicht raus ... ich wollte auch feiern. Da durfte ich wenigstens. Nicht so wie bei Dan." Flo berichtete von einer lahmen Feierei zuvor, in einer Gartenhütte. Alle wären dort am Saufen gewesen, nur er durfte kaum was mittrinken. Im Club sei das dann anders gewesen, dort habe er insgesamt drei Drinks gehabt, erst, um locker zu werden und dann ganz gezielt, um ,mehr' zu erleben.
„Und hast du ‚mehr' erlebt?"
Der Collie nickte. Er habe einen anderen Kaniden kennengelernt und einen großen Kater, und dann, nach dem dritten Drink ...
„.... bin ich mit denen runter."
„Runter?" Nick verstand nicht - und das was er verstand, klang viel zu surreal, um es zu glauben. Dafür reichte es für eine Monsterlatte, die er unter der Decke verbarg.
„Unten ... die ha`m da so Räume ... weißt schon ..." Er fuchtelte mit der Pfote, als könne sie den Satz für ihn beenden.
Sie konnte es nicht.
„Yiff-Räume," erklärte er mit brüchiger Stimme.
„Betten?"
Wieder antwortete die Pfote. Diesmal verstand der Kater sie: ‚fast' oder ‚so ähnlich'
Flo hielt inne, er brachte es nicht über sich, mehr zu erzählen. Die Erinnerung war zu präsent, die Scham, dies vor seinem Freund auszusprechen zu groß. „Da habt ihr dann ... also ... öhm ... geyifft?"
Nickende Zustimmung.
Der junge Felide schluckte. „Alle ... drei?" Wieder ein Nicken.
„Und das ... so richtig ...? Ich meine ... wie? ... hast du ... wie alt ...?" Auf sein Gestammel bekam er keine Antwort und eine anständige Frage wollte ihm ebenfalls nicht mehr gelingen. Er schaute zu Flo hinauf.
Der Collie wischte eine Träne beiseite: „Wenn du jetzt gehen möchtest, dann erzähl` ich meiner Mutter irgendwas. Du glaubst jetzt bestimmt, ich bin pervers."
Tatsächlich dachte er genau das nicht. Er machte sich viel mehr Sorgen um seinen Freund. Die Tränen machten ihm Angst. „Nein, glaubich nicht ... und gehen tu
ich auch nicht."
Ein lächeln huschte über das Gesicht des Collies.
„Würdest du ..." Nein, die Frage war doof. Aber etwas beschäftigte Nick. „Bereust du, dass du runtergegangen bist?"
„Nein?!" Der Tonfall ergänzte: ‚Wie kommst du darauf?'
„Dachte nur." Jetzt war es an Nick eine Pause einzulegen. Sein Tail drückte ihn hart.
„War`s geil?"
Flo grinste, zurückhaltend aber tiefgründig. „Oh, ja!" Er schaute den Feliden nur kurz an.
„Warum weinst du dann?"
Er gluckste, ein gleichzeitiges Lachen und Schluchzen. „Weil das peinlich ist."
Der Kater überlegte kurz. Dann beugte er sich vor, nahm seinen Freund in den Arm. „Muss es nicht." Er ließ gleich wieder los, bloß nicht zu lange! Schon saß er wieder auf der Matratze. „Danke."
„Kein Ding."
„Bist`n echter Freund."
„Du auch." Nick lächelte und hielt ihm die Pfote hin. Sie checkten und läuteten damit das Ende der bedrückten Stimmung ein. Es funktionierte.
Es war, als sei eine Last von ihnen genommen, der Kater empfand großen Respekt vor der Erfahrung, die Flo gemacht hatte, ebenso vor der Aufrichtigkeit und dem Mut seines Freundes, ihm das anzuvertrauen. Sollte er vielleicht über sein eigenes zwiespältiges Empfinden reden? Er verbarg auch ein Geheimnis, aus seiner Warte stand das immer noch zwischen ihnen.
‚Wie jetzt - ‚Mein zwiespältiges Empfinden!?' Alter, nicht schon wieder! Werd` ich jetzt Spießer, oder was?' dachte er und entschied, erst das Gespräch mit Sandra abzuwarten. Wenn ihm danach - in einer Woche - noch immer danach wäre, mit Flo zu reden, dann könnte er das ebenso gut dann tun.
Sie frühstückten Doggie-Loops im Zimmer. Den Vormittag verbrachten sie damit, dass sie durch ihre Kartenstapel wühlten. Speziell Nick hatte viel nachzuholen. Sie schauten eine letzte Episode BSG und verabschiedeten sich schließlich gegen Mittag. Vor dem Haus bestieg der Kater sein Rad und wackelte mit der Pedale, um sie Flo zu zeigen.
„Wünsch` mir Glück, dass ich damit ankomme."
Der hatte jedoch eine bessere Idee. „Wartmal, fahr mal um
s Haus, auffe Terrasse."
Wie sich herausstellte, hatte der Collie dieses Problem selber schon gehabt. Er wühlte durch den Werkzeugkoffer seines Vaters und brachte einen runden Schlüssel hervor, der exakt in die ffnung passte. Wieder, wie bei der Matratze, arbeiteten sie zusammen, Nick hielt fest und Flo zog die Schraube an. Sie waren ein gutes Team.
Die Rückfahrt war super, der Kartenkarton hatte so eben in den Rucksack gepasst und sein Rad fuhr wie neu. Stolz präsentierte er seiner Mutter ihre Arbeit. „Klasse, ja, scheint ein ganz Netter zu sein. Schön, dass du einen Freund gefunden hast. Und so schnell."
„Ja. Ach, Mama? Darf er nächste Woche bei mir übernachten?"
„Übernachten? Florianschatz, dein Zimmer ist so klein, könnt ihr denn nicht an einem Nachmittag spielen?"
Er schüttelte den Kopf. „Wir brauchen viel Zeit, dann können wir in die Na ... den Abend hinein Fernsehen. Und sein Kartenspiel dauert auch lange."
„Wo soll er denn schlafen? Ich weiß nichtmal, ob wir eine Matratze haben, die in dein Zimmer ..."
„Schlafsack," unterbrach er sie. „Bitte."
„Na gut, ich werd` mal mit Malvina telefonieren, wir wollten eh Rezepte tauschen." Das war gut, sie hatte nichts dagegen. „Nächsten Samstag?" Sie machte große Augen. Vielleicht war das doch zu viel verlangt.
„Wärnur fair. Ich war auch bei ihnen. - Ich zahl
auch sein Essen?! Ich hab zwanzig
Euro."
Jetzt musste sie lachen. „Nein, mein Schatz, ist schon gut. So knapp isauch nicht." Sie schnaufte resignierend. „Na gut, ich freu
mich ja, dass du Anschluss gefunden hast." Ihre Pfote wuschelte durch sein Haar.
‚Yes!' dachte er. ‚Geschafft!'
Sandra fand er am Telefon. Sie gackerte, unverkennbar telefonierte sie mit einem anderen Mädchen. Sie nickte ihm zu und signalisierte ‚noch fünf Minuten'. Er nutzte die Zeit und wechselte seine Klamotten, den strengen Geruch nach Border Collie wollte er so wenig wie möglich in der Nase haben, wenn er sich mit Sandra unterhielt. Oberflächlich kämmte er sich sogar Brust und Hals mit einer vorsichtigen Ladung NScent-Pulver.
Aus fünf Minuten würden fünfundzwanzig, dann erst hörte er seine Schwester die Treppe hinaufkommen. Sie besaß, im Gegensatz zu ihm, die Feliden nachgesagten Samtpfoten, aber das Knarzen der vierten Stufe konnte auch sie nicht verhindern. Um die Zeit totzuschlagen hatte er in der Zwischenzeit begonnen, die Karten aus dem Schuhkarton nach Farben sortiert auf verschiedene Häufchen zu stapeln. Wie bei den Ludolfs, dachte er, dieser Familie von schrottsammelnden Hamstern, die es irgendwie ins Fernsehen geschafft hatten. Er hatte sich kaum erhoben, da stand Sandra in der Tür. „Fertig?"
„ICH, ja," triezte er.
„Ja, sorry, hat länger gedauert." Sie grinste. „Mädelskram, weißt schon. Dachboden?"
„Klar, warum nicht?"
Schon kurze Zeit später saßen sie auf dem Dachboden und zogen die Schutzfolie von einem großen Bottich Vanilleeis.
„Ich zuerst," verkündete sie und strich mit dem Löffel über die bis dahin makellose Oberfläche.
„Mit Eis, oder Erzählen?" Auch Flo bediente sich. Es war tatsächlich wie damals in ihrem alten Haus, das Vertrauensverhältnis, die Ruhe, die seine Schwester in ihm auslöste, alles war noch da.
„Mit Beidem," grinste sie. Sandra eröffnete ihre Unterhaltung damit, ihm von ihren neuen Freundinnen zu erzählen. Katrice, einer Colliehündin, allerdings keine Border Collie. Ettalia, einer Siamkatze, die ebenfalls erst seit einigen Wochen hier hergezogen war und noch Schwierigkeiten mit der Sprache hatte und Melanie, einer Schäferhund- Husky-Fähe, die ständig an ihrem Smartphone hing.
„Auf jeden Fall gibt es da auch noch diesen Typen, Lupin Dolby. Von ihm gehört?" Nick schüttelte den Kopf.
„Das ist ein Amerikaner, er ist vor mehreren Jahren hergezogen, aber er hat noch immer so einen süßen Akzent." Ihre Augen schmachteten, als sie davon berichtete.
„Lupin? Wolf, ne?" Daher wehte also der Wind, er war kein Felide.
„Nein," sie ließ den Löffel sinken. „Aber versprich, dass du Mama nichts davon sagst."
Er schüttelte den Kopf und die Schultern in einer War-doch-eh-klar-Geste und schleckte seinerseits seinen Löffel sauber.
„Kojote."
„KOJOTE?" schrie Nick förmlich.
„SchhhHT!"
Er schraubte etwas herunter. „Der Kerl heißt Lupin und ist ein Kojote?" „Aber er`s so süß."
„Bi-tte!"
„Ja, ist ja schon gut. Alle nennen ihn nur Lumpi, weil er so verzottelt aussieht, aber ich mag`s total." Wieso ausgerechnet Kojote? Lumpi, das konnte ja war werden! Er atmete tief durch und kniff zwei Finger in seine Augen. Toleranz, das brauchte er jetzt. Und sie. Toleranz war gut. Er selber hatte ja auch noch etwas vor sich. Nick zwang sich zur Ruhe. Außerdem lebten sie im einundzwanzigsten Jahrhundert, sollten die ganzen Hardliner doch auf die Barrikaden gehen, speziesübergreifende Beziehungen gab es immer häufiger. Das war immerhin seine Schwester, die sich ihm gerade anvertraute.
Sie berichtete, wie sie sich kennengelernt hatten, er ging in die Klasse über ihr - auch das noch - und beim Snackautomaten war es zu einer folgenschweren Ich-leihe-dir-fünfCent-Aktion gekommen. „Alles was ich will, ist doch nur, Mama das zu sagen, aber ich weiß nicht, wie?"
Der Kater überlegte. „Was genau zu sagen, ich meine wie ernst ist es mit euch?" Immerhin kannten sie sich auch erst seit einer Woche, vermied er auszusprechen.
Sie schien sich dieses Aspektes sehr bewusst zu sein, denn sie füllte den Löffel mit viel Eis und aß es in zwei großen Happen. „Naja, wir haben uns unterhalten. Schon ein paar Mal - Und er hat gesagt, ich sei cool," schob sie hinterher.
Innerlich rollte Nick mit den Augen. Vor ihm saß nicht nur seine Schwester, sondern auch ein bis über beide Ohren verknallter Teenager. Nicht lästern, gebot er sich, sie brauchte jetzt jemanden zum Reden, nicht noch mehr Probleme. „Vielleicht ..." Er leerte seinen Löffel. „Ich finde du solltest der Sache noch etwas Zeit geben. Sieh mal, wenn du Mama jetzt was davon sagst, flippt sie voll durch. Dann verbietet sie dir mit Pech sogar, ihn zu sehen - und dann haust du nachher noch ab und siehst ihn heimlich."
„... ja und komme gar nicht wieder, schlafe unter der Brücke, werde schwanger und nehme Drogen?" fauchte sie ihn an, schien ihre derbe Reaktion jedoch im selben Augenblick zu bereuen.
Nick ließ sich nicht beirren. Er war schon immer im - ernsten - Gespräch mit ihr ein anderer Kater gewesen, ruhiger, erwachsener als sonst. Das kam ihm jetzt zugute. „Nein, das natürlich nicht, aber sieh mal, sie hat grad genug Stress, das neue Haus, das Geld fehlt ..."
„... Die Hausfinanzierung steht soweit, hat sie Freitag bekommen," unterbrach sie ihn.
„Cool." Die Nachricht beruhigte ihn zusätzlich. „Trotzdem, die Überstunden, der ganze Kram und dann kommen wir mit solchen Dingern?"
„Wir? Doch nur ich?"
Nick zuckte, er hatte vorgegriffen. „Ja, du. Weißt, was ich meine?"
„M-hmh." Sie klopfte mit dem Löffel auf ihrer Seite des Eisbechers herum. „Krass, mit dir zu reden tut gut, bei den Mädels klang das anders. Wir haben uns immer nur noch mehr reingesteigert. Katrice hat sogar gesagt, ich soll ihn küssen und gucken, wies sich anfühlt. Wenn
s sich gut anfühlt, ne, also so richtig, von Anfang an, dann ist er der Richtige.
Aber du, mit dir, du hast schon Recht. Ich werd` wohl abwarten."
„Jop, und wenn er nett ist und der Richtige, dann halte ich zu dir."
„Danke, kleiner Bruder."
Er grinste beschämt. So hatte sie ihn früher immer genannt, wenn sie ihn ärgern wollte.
Sie löffelten schweigend ihr Eis.
„Und du?" durchbrach sie schließlich die Stille.
„Ich?"
„Ja, du. Oder siehst du hier sonst noch wen?"
Nick konnte spüren, wie seine Initiative ihn verließ. Zweifel kamen ihm, ob er das Thema ansprechen sollte. Flo - sein Thema - ,Das Thema'.
War es ein Thema? Klar! Aber worum ging es? Den Collie? Ihn? Könnte sie ihm überhaupt helfen. Wollte er das?
Er schaute Sandra an, wie sie erwartungsvoll, mit dem Löffel in der Schnauze, in seine Richtung blickte. Ihre Gesellschaft beruhigte ihn. Warum eigentlich nicht? Und ganz einfach fing er an. Sie hatte Florian ja kennengelernt. Er war mit ihm Eis essen gegangen, Skaten, das alles klang noch nicht spektakulär.
„Unterhalten wir uns jetzt über deinen neuen besten Freund oder was?" Sie klang ungeduldig.
„Irgendwie schon, nee mich ... und ihn ... es ist kompliziert," stöhnte er.
Ihre Neugier war geweckt. Sie setzte sich aufrecht und stützte den Kopf auf die Pfoten. „Erzähl!"
‚Raus damit, wie ein Pflaster, unter dem das Fell nachwächst - mach es schnell!', dachte er.
„Flo ist schwul."
*Römms*
Er konnte den Einschlagkrater, den dieses Wort in ihrem Hirn hinterließ förmlich sehen, im Ausdruck ihrer Augen. Überraschung und Belustigung las er in ihnen, sie holte Luft, um einen Spruch zu bringen. Es war wohl doch keine gute Idee, so etwas mit ihr zu besprechen. Gerade schon wollte Nick es bereuen, als sie innehielt. Seriosität kehrte in ihr Gesicht zurück, sie erkannte, dass es ihm ernst war und womöglich noch mehr dahintersteckte.
„Echt jetzt? Verarsch` mich nicht!"
„Tu` ich nicht. Aber das weiß keiner. Nur ich. Und du."
Sie nickte zustimmend. „Und weiter? Oder war das schon alles; mein Bruder der Homophob?"
„Was heißt Homophob?"
„Dass du Paras schiebst, wenn einer schwul ist."
„Nein, das nicht, es ist ..."
„... kompliziert?" unterbrach sie ihn. „Sagtest du schon! Ich liebe kompliziert. Komm schon, rück`s raus, was noch?"
Er schaute auf und traf ihren Blick mit einer Unsicherheit, die bei ihr die Puzzleteile zusammenfügte.
„Nein?" Grinste sie. „Nein?! Nicht wirklich, oder?"
„Was?"
„Er steht auf dich?"
Nick war perplex, wie hatte sie das jetzt erraten? Irritiert dachte er nach. Wie weit wollte er mit ihr gehen, wie viel sollte er ihr erzählen?
‚Alles', schrie eine Stimme aus seinem Inneren. ‚Alles, ich kann nicht mehr!' Es war der Türsteher, derjenige der verhinderte, dass all die zusammengepferchten Gedanken, Eindrücke und Fragen die sich angesammelt hatten, herausbrachen. Er hatte schon einmal der Last nachgegeben, gestern Abend und das Resultat wäre fast in (an) die Hose gegangen. Es wurde zu viel, der arme Türsteher war müde und musste einige dieser Fragen loswerden, sonst würden sie beim nächsten Mal noch viel gewaltiger ausbrechen. ‚Mach schon, los!'
„Auch," begann er. Seine Schwester lauschte, während er ihr berichtete, dass Florian ihm gestanden hatte, auf ihn zu stehen, von ihrem unangenehmen Gespräch in seinem Zimmer und der halben Woche in welcher der Collie daraufhin der Schule ferngeblieben war. Von ihrer Unterhaltung auf dem Schulhof, der anschließenden Umarmung und, dass damit eigentlich alles in Ordnung war.
„Aber ... er lässt nicht locker und du fühlst dich unwohl und weißt nicht, ob du die Freundschaft unter den Umständen weiterführen kannst?" riet sie.
Nicolas` Wangen glühten. „Nein, nicht so. Er ist zurückhaltend seitdem, ganz normal.
Wie`n normaler Kumpel. Eigentlich ist alles gut."
„Und uneigentlich? ... ist nicht alles gut?"
„Nein, es ist ..."
‚Hilf mir, na los!' Wieder diese Stimme in seinem Kopf.
„Sandra, ich ..."
‚LOS MAN! Du weißt was abgeht, sag` es endlich!'
„Ich glaube ich habe mich in ihn verliebt."
‚Danke!'
Sie blinzelte irritiert.
„Wao, das heißt, also bist du ...? Echt jetzt?"
Nick begann, am ganzen Körper zu zittern, er konnte kaum den Blick fixiert halten und ihm wurde schlecht vor lauter Aufregung. Heiße Tränen sammelten sich in seinen Augenwinkeln und verteilten sich in seinem Wangenfell. Die Tür war geöffnet, nichts vermochte sie wieder zu schließen.
„Sandra, ich ... ich weiß nicht weiter ..."
Und dann brach alles über ihm zusammen. „Was soll ich denn jetzt machen?" Ungebremst überrollten ihn Gefühle, die stärksten davon waren Scham, Angst, Unsicherheit und die Überzeugung, anders zu sein, falsch zu sein. „Hilfe!" maunzte er. Klimpernd entglitt ihm der Löffel aus der Pfote.
Die Katze reagierte genau richtig, sie schob den Eisbecher zwischen ihnen beiseite und nahm ihren aufgelösten Bruder in die Arme. „Ssschhhhht!"
Kaum hatte sie ihn an sich gedrückt, sackte er an ihrer Schulter zusammen und schluchzte und bebte. Er wollte etwas sagen, aber seine Lippen zitterten nur nutzlos. Er klammerte sich an sie und weinte ungehemmt.
Die Zeit schien ihm wie eine Ewigkeit vorzukommen. Sandra saß regungslos und war einfach für ihn da. Zwei Mal glaubte Nick über den Berg zu sein, aber ein kurzer Gedanke genügte und schon wurde er von einer neuen Welle geschüttelt.
Als er sich irgendwann später beruhigte, die verheulten Augen aufmachte und sie mit dem Pfotenrücken wischte, guckte er genau auf die Eispackung. Scheinbar war es eine kleine Ewigkeit gewesen, denn in der Mitte hatte sich ein See aus geschmolzenem Vanilleeis gebildet, der vorher noch nicht da war. Vorsichtig löste er sich von seiner Schwester und setzte sich wieder hin. Er wischte erneut über sein Gesicht und schniefte. „Danke." Sie lächelte verständnisvoll. „Geht`s wieder?" Er nickte.
„Möchtest du weiterreden?"
„Ja." Seine Stimme klang belegt, aber der dicke Kloß in seinem Hals war verschwunden, der Druck in seinem Inneren auch. Das Reden fiel ihm leichter.
„Du bist also schwul?" fragte sie und grinste.
„Weiß nicht."
„Ich find`s klasse."
Nick traute seinen Ohren nicht. Klasse? „Echt jetzt?"
„Klar. Süß, zwei verlegene Jungs, die umeinander herumschwänzeln und beide zu verlegen, mit dem Anderen zu reden? Ihr seid niedlich," neckte sie.
Nick strafte sie mit einem fiesen Blick. „Er hat ja mit mir geredet. Da habgesagt, ich sei Hetero. Ich hab
s ja auch wirklich geglaubt, verstehst du? Ich mein` ... klar, ich hatte noch keine Freundin, aber ich dachte immer, das kommt von alleine. Ich dachte einfach nie, dass ich ... Und vielleicht bin ich's ja gar nicht ..."
„Ach egal," unterbrach er sich selber. „Er hats verstanden und hat ja auch Ruhe gegeben. Das Thema war durch. Und jetzt, wo das für ihn vom Tisch ist, jetzt fang
ich an."
„Das ist nicht vom Tisch," konterte Sandra. „Wenn er, wie du es nennst, wirklich auf dich steht, dann ist das nicht mit einem Gespräch vorbei. Vielleicht reißt er sich zusammen, spielt dir was vor. Er macht auf normal - ‚gibt Ruhe', wie du sagst, weil ihm etwas an eurer Freundschaft liegt, aber gegen sein Empfinden kann er so schnell nix machen."
„Meinst du?" schniefte Nick. Sein Gesicht war feucht. Das Fell rund um seine Nase und Augen richtete sich langsam wieder auf und kitzelte dabei.
„Ja, mein` ich. Und du; hast du ihn mal drauf angesprochen, dass er etwas in dir geweckt hat? Weiß er von deinen Gefühlen?"
Nick schüttelte den Kopf und griff antriebslos seinen Löffel. Er war voller Krümel. „Noch nicht, ich wollte doch erst mit dir reden. Weil du doch meine große Schwester bist und helfen kannst, dachte ich."
Jetzt war es an Sandra, rot zu werden. „Awwww danke," schnurrte sie. „Und ich bleibe dabei, ich gebe dir sogar den gleichen Rat wie du mir: Überstürze nichts, lote aus wie es dir geht. Du musst dir ganz sicher sein, kein ,ich weiß nicht' oder so. Ich rede von WIRK-LlCH sicher, über dich und ihn. Und check ab, wie er sich verhält und dann erst rede mit ihm."
Er nickte und wischte sich erneut durch`s Gesicht. „Bestimmt hast du recht."
„Ganz bestimmt habe ich recht. So wie du bei mir. Du hast es selber in der Pfote. Keine falsche Hast, mach nix Dummes, dann wird das schon. Er liebt dich, ganz bestimmt.
Dem Kater klappte das Kinn hinunter - Liebe! „Aber ..." stammelte er.
„Mein kleiner, schwuler Bruder," Sie grinste, dann umarmte sie ihn ein zweites Mal.
Diesmal grummelte Nick. „Lumpi," schnaubte er und beide lachten laut.
Sie blieben noch etwas länger auf dem Dachboden, unterhielten sich über Schule, ihre Mutter, das Haus und das neue iPhone. Und über Flo und Lupin.
Seine Schwester hatte Recht, die nächste, unüberlegte, übereilte Aktion würde schiefgehen. Nick hatte nichts von seinem nächtlichen Annäherungsversuch erwähnt - Vertrauensverhältnis hin oder her, das und Florians Clubgeschichte waren etwas, über das er mit niemand Anderem als dem Collie selbst sprechen würde.
Zum Schluss verabredeten sie sich für nächsten Sonntag. Nick war erleichtert, als er die Stufen vom Dachstuhl hinabstieg. Das hatte richtig gut getan. Auch, wenn er sich verbissen an den Gedanken klammerte, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen war. Er und ein anderer Junge, das war so ... wieso er? Wieso jetzt? Das war doch nicht richtig.
Einen kleinen Dämpfer bekamen sie beide, kaum, dass sie in der Küche ankamen. Ihre Mutter schimpfte, als sie sah, wie viel vom Eisbottich ungegessen geschmolzen war. Sandra entschuldigte sich und der Kater versprach, ihr einen neuen zu kaufen, gleich Montag. Sie meinte, dass es darum nicht ging, man behandle Lebensmittel nicht so.
Beide Kinder gelobten Besserung.
Am Abend lag Nick früh und ausgelaugt im Bett. Er hatte die letzten Stunden damit verbracht, zuerst seine Hausaufgaben zu erledigen und war dann auf die Webseite des Club Orange gegangen. Wie er erwartet hatte, gab es diesen Club tatsächlich, Flo hatte ihn nicht erfunden. Ein paar Fotos von der Location zu sehen half, die Story seines Freundes besser greifen zu können, sie gewann dadurch an Realismus. Jetzt wälzte er sich jedoch deswegen umher und ließ alle Eindrücke dieses Tages auf sich wirken. Er dachte nicht mehr nach, das hatte er heute schon genug getan und führte nur zu ständig neuen Fragen. Besser schien es ihm, einfach alles bisher Erlebte zu wiederholen, zu verarbeiten. Wie kompliziert sein Leben geworden war, würde das wohl jetzt immer so bleiben? Endlich kannte er alle Fakten, das würde bestimmt etwas Ruhe hineinbringen. ‚Neue Woche, neues Glück', entschied er und drehte sich ein letztes Mal um, dann war er eingeschlafen.
Korky begrüßte ihn aufgeregt, kaum, dass er in Sichtweite des Klassenraumes kam.
„Schon gehört, schon gehört?"
„Nee, was`n?" Bis jetzt hatte Nick sich keine Gedanken über die Schule gemacht, Sandra hatte ihm beim Frühstück einige verschwörerische Blicke zugeworfen und die Autofahrt über hatte er beinahe schweigend neben seiner Mutter im Auto gesessen. „Sport? Frau Solberg?"
Er sah dem Waschbär in die dunkel umrandeten Augen. „Immer noch nein?!" Immerhin kannte er den Namen, Frau Solberg war ihre Sportlehrerin, bisher hatte er jedoch nur eine Doppelstunde Sportunterricht bei ihr mitgemacht. „Was` mit ihr?"
Korky holte tief Luft und überflutete den Kater mit einem wahren Redeschwall: „Sie hatte am Wochenende einen Autounfall. Irgendeiner hat ihr die Vorfahrt genommen und sie ist ausgewichen, genau gegen einen Laternenmast."
Nicks Augen weiteten sich. Frau Solberg war sehr nett, er mochte sie. „Und ...?"
„Jetzt liegt sie im Krankenhaus am Wolfshügel, Gehirnerschütterung und ein Bruch im
Bein, sie wird für zwei Monate ausfallen."
„Woher weißt du das alles? Ich meines ist grad
mal Montag Morgen."
„Meine Mutter arbeitet da als Krankenschwester und hat uns das am Sonntag erzählt. Sie hat mit ihr gesprochen, sie lässt schön grüßen. Darum darf ich das überhaupt erzählen." „Krass."
„M-hmh. Jetzt überlegen sie gradwie sie uns Sport geben wollen. Der neue Rektor hat was gegen Ausfälle, eher würde er uns um
s Lehrerzimmer joggen lassen und uns dabei selber beaufsichtigen, der`s so drauf."
„Heftig; masehen wie
s wird."
„Jo! Ist ja übermorgen schon." Korky verstaute sein Notizbuch im Rucksack. „Und? Wochenende gut verbracht?"
„Ja ..." Nick überlegte, was er erzählen wollte. „Fahrrad repariert und bei ei`n Freund übernachtet." „Oh? So schnell?"
„M-ja." Kurz hielt er inne und wog ab, ob er wohl preisgeben könnte, bei wem er war, aber da eh jeder mitbekam, dass der Collie und er befreundet waren, gab es nichts was dagegen sprach. „Flo aus der 8B." „Ach ja, kenn` ich."
Die Klingel riss sie aus ihrer Unterhaltung. Heute, am Tag acht in seiner neuen Klasse konnte er seine Mitschüler deutlich distanzierter einschätzen. Die Nagerecke war auch gleichzeitig die Chaotenecke, die Mädchen waren meist nur genervt von den Jungs und generell ruhiger im Unterricht. Korky war so etwas wie der Klassennerd, auch wenn er nicht Genie genug war, um seine Freizeit mit Matheproblemen oder Computerprogrammierung zu verbringen, so behielt er in der ganzen Unruhe stets den Überblick und zog sein eigenes Ding durch. Er war ein Tabellenfreak, ein Organisator. Freunde hatte er, die jedoch nur aus der 8B, Florians Klasse.
Allmählich wurden die Dinge zur Routine, der Montag präsentierte sich ereignislos. Während der großen Pause saßen Nick und der Collie draußen auf einer Mauer und kauten an ihren Broten. Sie redeten wie Kumpels, nichts deutete von außen darauf hin, welche Geheimnisse sie hüteten oder wie es um die Gefühle zwischen ihnen stand. Was jedoch passierte war, dass Nick anfing, Dinge zu sehen. Nichts Greifbares, nur subtile Kleinigkeiten, es war in Florians Verhalten. Der Collie gab sich, als habe es nie so etwas wie eine Zuneigung gegeben, die über die ‚normale' Freundschaft hinausging. Trotzdem, immer wieder zwischendurch gab es da eine Körperhaltung, ein vermiedener Blickkontakt, eine verborgene Angespanntheit, die alleine für sich nicht auffielen, in der Summe aber Sandras Prognose stärkten: Florian war alles Andere als über den Berg. Wie sollte er auch? Vermutlich stand der Collie wie eh und je auf ihn, wollte ihm aber durch sein (übertrieben) normales Benehmen versichern, dass nichts mehr los war. Eine andere Möglichkeit war natürlich, dass Nick sich das alles nur einbildete - oder langsam durchdrehte.
‚Zeit geben!' ermahnte er sich selber in solchen Momenten.
Mitten in die erste Stunde am Dienstag platzte Nicks neuer Klassenlehrer und teile mit, dass der Sportunterricht wie geplant stattfinden würde. Um das Fehlen von Frau Solberg zu kompensieren würden die 8A und die 8B gleichzeitig in der großen Halle Zirkeltraining machen. Der Kater war begeistert, dort würde er Flo wiedersehen. Auch wenn Zirkeltraining prinzipiell scheiße war.
Später am Nachmittag schraubte er mit seiner Mutter Zierleisten über das verlegte Laminat im Wohnzimmer. Das heißt, sie schraubte und er übernahm das Zurechtsägen. Während der Arbeiten fragte sie ihn alles Mögliche über die neue Schule. Wie die Lehrer so seihen und die Klassenkameraden. Ob der Stoff ähnlich sei wie in seiner alten Schule und so weiter. Nick berichtete, dass er nicht in die versprochene ‚Ganz tolle Klasse' gekommen sei, sondern man ihn in die chaotische 8A gesteckt hatte. Bisher hatte er dieses Detail seiner Umschulung noch gar nicht erwähnt, irgendwie war immer etwas dazwischengekommen. Heute hatten sie Zeit für ein ausgelassenes Gespräch, also erzählte er ausführlich über die 8A. Korky, den chaotischen Nagern, der anstehenden Klassenreise, einfach allem. Sie war wenig begeistert, zu hören, dass sogar er selber die Verhältnisse in der Klasse als zu laut zum Lernen einstufte.
„Ich ruf` da gleich morgen mal an, das kann ja wohl nicht sein!"
In Nick keimte eine Hoffnung auf, eventuell in die 8B zu kommen, daher widersprach er nicht.
„Und mit dei`m neuen Freund? ...Florian? Siehst du ihn in der Pause mal?"
„Ja, manchmal."
„In welche Klasse geht er denn?"
„In die 8B. Die`s ruhiger sagt er."
Sie nickte und versenkte eine weitere Spax-Schraube in der Wand. Etwas Gutes war aus der Trennung und dem Umzug auf jeden Fall herausgekommen: Alle Drei waren sie selbstständiger geworden, handwerklich geschickter und irgendwie stärker.
„Wenn er am Wochenende kommt - er kommt doch noch, oder? - Was isst er dann; mag er alles?"
„Ich denk` mal, ja ... kein Fisch vielleicht, aber sonst?!"
„Collie, oder?" fragte sie als würde sie es nicht mehr wissen. „Dann mach` ich Bolognese, was hältst du davon? Kaniden mögen doch Fleisch?!"
Dieser Vorschlag ließ Nick`s Herz höher schlagen, die Bolognese-Sosse seiner Mutter war spitze!
Etliche Minuten verstrichen, in denen der Kater abwog, ob er seine verwirrenden Gedanken (Gefühle?) dem Collie gegenüber ansprechen sollte, das Gesprächsklima lud ihn förmlich dazu ein. Sie wirkte stark, so als könne sie nichts erschüttern. Dann aber erinnerte er sich an sein Gespräch mit Sandra. Egal wie sie sich gab, das, was sie in den vergangenen acht Monaten durchgemacht hatte, musste sehr viel Kraft gekostet haben, sie mehr als alle anderen Beteiligten. Wenn er ihr jetzt mit so etwas kam - wer weiß wie sie reagieren würde. Und überhaupt - das war doch alles noch unausgereift. Gerade hier und jetzt wusste er eh gar nicht, wieso er überhaupt glaubte, da wäre auch nur irgendetwas. Nix war da, bestimmt nicht! Er sägte verbissen die nächste Leiste durch und fühlte sich sehr männlich dabei. So`n paar fehlgeleitete Hormone spielten verrückt, das war alles, scheiß Pubertät!
Als die Arbeit beendet war, duschte er und aß anschließend, in ein dickes Badetuch gewickelt, ein paar CatFlakes. Heute Abend war Selbstversorgung angesagt. Schon gegen Sieben, als er surfend und noch immer feucht auf dem Bett lag, sah die Welt schon wieder anders aus: Die Seite vom Orange prangte als Erste in seiner History und erinnerte ihn an Florians Erzählung. Er war neugierig auf mehr Details dessen, was der Collie dort erlebt hatte. Mit drückender Felltasche, eingeklemmt zwischen Bauch und Matratze, starrte er auf den Eintrag: http://www.cluborange.de und war - neidisch. Er wollte seinen Freund sprechen, er musste es einfach tun. Vielleicht würde sich während eines Telefonates ja sogar eine Gelegenheit bieten, mehr zu erfahren. Lange rang er nicht mit sich, er rief schon bald an. Erst auf Handy und dann Festnetz zu Festnetz.
Sie quatschten sich richtiggehend fest. Noch nie zuvor hatte er so lange telefoniert, speziell nicht mit einem Freund. Jetzt endlich wusste er, wie Sandra das schaffte, solche Endlosgespräche zu führen. Sie redeten über Magic, Nick`s Fortschritt im Deckbauen hielt sich deutlich in Grenzen, aber das hatte ja auch noch Zeit. Dann über Sport. Flo hatte ebenfalls von der Zusammenlegung gehört. Sie planten das kommende Wochenende und als Nick gar nichts mehr Besseres einfiel, redete er sogar über das Wetter. Kurz vor Neun erst legten sie auf. Der Zustand seiner Felltasche besserte sich auch nach dem Zähneputzen nicht, die morgige Sportstunde motivierte seine Lenden immer wieder.
Er wollte das nicht, gab aber schließlich fluchend nach. In seiner Vorstellung ließ er Flo allerlei erotische Abenteuer erleben, während er an sich herumspielte. Richtig in Fahrt kam er als er sich ausmalte, dass der Collie morgen nach dem Sport sogar duschen könnte und wie er dazukäme - natürlich ungestört - und Flo ihn anfassen würde, er würde es zulassen, seine Hemmungen ablegen und sich ...
So angeregt kam der jugendliche Felide heftig. Er stellte sich vor, dass es die schwarzweisse Pfote war, die ihn pfotete und spritzte bis unter sein Kinn. Das schlechte Gewissen kam mit der Ernüchterung nach dem Orgasmus. Die erneute Vorstellung, schwul zu sein, bereitete ihm Bauchschmerzen. Seine Stimmung wurde verkrampfter.
‚Wenns für
s Pfoten gut ist, dann hab` ich nichts dagegen', legte er fest. Mehr Spielraum räumte er seinen Gelüsten nicht ein und vermied es, weiter darüber nachzudenken. ‚Du kennst die Antwort doch schon längst.'
Trotzig drehte er sich auf die Seite und schlief ein.
Die ersten Stunden vergingen viel zu schnell. Nick wurde beim Verlassen des Klassenraumes bereits nervös, den gesamten Mittwochvormittag schon arbeitete es in seinem Bauch, kleine Flatterviecher führten dort eine Art Tanz auf - oder eine Massenpanik. Er hatte keine Ahnung, wo sie herkamen und noch weniger Bock auf sie. Gespeist wurden sie durch immer neue Überlegungen, was, wenn das Chaos der letzten Tage ihn die Sportstunde über einholte, er womöglich eine Latte bekäme? Oder beim Umziehen; würden beide Klassen dieselben Räume benutzen? Duschen - müssten sie auch zusammen duschen?
Massenpanik, auf jeden Fall Massenpanik!
Zu seiner Erleichterung war dies schon mal nicht der Fall, die Halle verfügte über zwei separate Eingänge mit ihren jeweils eigenen Umkleideräumen. Um die Schüler zusammenzuführen fuhr der Sportlehrer der 8B (der die Doppelstunde leitete) die großen Trennvorhänge hoch und ließ jede Klasse die Hälfte der benötigten Geräte aufbauen. Flo winkte seinen Katerfreund zu sich, als er selber an einem Weichboden zerrte. Zu Zweit schafften sie es, ihn genau vor der Sprossenwand zu platzieren.
Wie befürchtet, übte der Kanide in den darauffolgenden zwei Stunden, durch seine kurze Sporthose und das luftige Shirt, das er trug, eine Nick schon allzugut bekannte Anziehungskraft aus. Aus der Hose ragte an zwei Enden der neulich schon so faszinierende, dritte weiße Fleck. Oberhalb des Bundes, was nur zu sehen war, wenn der Collie sprang oder kletterte und, unterhalb, die Innen- und Vorderseite des Oberschenkels entlang. Was ihn aber noch viel mehr bewegte war der Spaß, die Energie mit der Flo das Zirkeltraining absolvierte. Da war etwas, ein Strahlen in seinem Gesicht, ein Funkeln in den Augen, Zeichen, wie viel Spaß der Kanide am Leben hatte, an sich und seinem neuen Freund. Das wiederum stimmte Nick nachdenklich. Wenn er nun wirklich schwul war - und die Zeichen, dass er es war und auf Flo stand, verdichteten sich ja zunehmend - wäre das dann wirklich so schlimm?
Wäre er nicht einfach nur glücklich, dies ganze Durcheinander abzulegen und Flo in den Arm zu nehmen, sein Fell zu spüren, weich, flauschig, warm und in seinen Armen und ohne Scham hart zu werden ...
Nick schielte auf die dezente Beule in Florians Sporthose.
... und mehr?
Er entschuldigte sich und legte eine ‚Pinkelpause' ein, um runterzukommen. Eine Sekunde länger und ihm wäre vermutlich der Schwanz geplatzt. Sogar jetzt noch puckerte das Teil gegen den Gummizug. Ein kleiner, feuchter Fleck hatte sich auf der Spitze gebildet. Nick fluchte in seine Barthaare, als er vor dem Pissoir stand und darauf wartete, hineinzielen zu können. Die Ruhe und nicht zuletzt der unangenehme Geruch auf dem Jungsklo halfen schließlich dabei.
Den Rest der Sportstunde über nahm er konzentrierter am Unterricht teil. ‚Zeit geben - Wochenende', hieß seine Taktik. Viel länger würde er dies Hin- und Her auch nicht mehr ertragen. Es gab sogar einen kurzen Moment, in dem Nick überlegte, den Vorschlag seines Freundes, am Freitag wieder zu skaten, abzulehnen, nur, um seine Ruhe zu haben, tat das dann aber doch nicht. Freitag skaten und am Samstag - ja, was genau am Samstag, wusste er nicht, er wusste nur - irgendetwas.
Flo bekam von alldem natürlich nichts mit. „Du musst ja noch die Sprünge und Drehungen peilen, dann können wir auch auf die Pipe," brach er mitten in Nicks Gedanken.
Offenbar hatten sie sich sogar über den Skateplatz unterhalten. „M-ja, werd` ich," antwortete er geistesabwesend. Samstag!
Florian ging nicht weiter auf die monotone Antwort ein. Sie verabschiedeten sich beim Abbauen, telefonierten auch diesen Abend weit über eine Stunde. Nick lag bis kurz nach Mitternacht wach. Er dachte über Samstag nach. Über mögliche Dialoge, wie er anfangen sollte oder wie sein Colliefreund darauf reagieren würde. Aber egal was er sich ausmalte zu sagen, es klang blöd und mündete in einem Desaster.
Nick: ‚Flo, ich bin auch schwul.' - Flo: ‚Etwa meinetwegen? Oh, das wollte ich nicht, tut mir leid! Ich halte mich besser fern von dir!' oder
Nick: ‚Ich mag dich und möchte dich küssen um zu sehen, ob du der Richtige bist.' oder - Nick: ‚Ich glaube, ich stehe auch auf dich, darf ich dich mal anfassen? Wär das schlimm, wenn ich mich am Ende irre und doch nicht schwul bin?'
*MP*
Sein bauch grummelte, aber das war egal, er würde sich zusammenreißen und irgendetwas tun, so viel war ihm klar.
Der Donnerstagvormittag war ganz okay, Korky hielt Nick auch während der Pausen über beschäftigt. Der Kater erfuhr an diesem Tag viel über den eigenbrötlerischen Waschbären, sie waren sich gar nicht so unähnlich. Genau wie er ging er einem Hobby nach, das er mit niemandem in der Klasse teilen konnte, nämlich spielte er ein Spiel, dass er als Tabletop bezeichnete: Warhammer. Den Namen hatte Nick schon mal gehört, aber ansonsten sagte ihm das nichts. Der Klassensprecher zeigte ihm daraufhin Bestellhefte mit allerlei finster aussehenden Soldaten, Kreaturen und Kriegsgerät. Es schien beinahe so, als sei Warhammer Magic ohne Karten, dafür mit Unmengen Figürchen. Dann jedoch erzählte Korky von eigens angefertigten Schlachtfeldern, Kämpfe, die über mehrere Tage dauern konnten. Abmessungen mit Lineal, Maßband, Geodreieck, wegen Distanzen und Geschossflugbahn - irgendwo dort oder beim Aufzählen der unterschiedlichen Rassen stieg Nicks Kopf dann aus. Eines musste er sich aber eingestehen, diese Art, seine Pausen zu verbringen hatte auch etwas Gutes, denn so hatte er kaum Gelegenheit an Florian und ihr bevorstehendes Wochenende zu denken.
Nach der Sechsten schaffte er es und flüchtete vor Korky aus dem Klassenraum, um seinen Collie zu suchen. Beide würden sie noch eine weitere Doppelstunde haben und die Pause bis dahin war kurz, aber er wollte seinen Freund auf jeden Fall noch einmal sehen. Vielleicht war heute ja endlich was anders. So in den Gefühlen, der Art wie der schlanke Colliekörper auf ihn wirkte - irgendwas.
Sein Wunsch ging bei der Kantine in Erfüllung. Um diese Zeit verkaufte nur eine einsame Siamkatze die Restlichen Würstchen, bevor die Rollläden endgültig heruntergelassen würden.
Flo schlurfte geistesversunken den Flur entlang und bemerkte den Kater erst, als er ihn
erreicht hatte. „Hoi Nick?! Hab` dich heute ja noch gar nicht gesehen." „Ja, Korky." Er rollte grinsend mit den Augen.
„Oh, lass mich raten, der Überklassensprecher hat den ganzen Tag lang Statistiken gewälzt?"
„Nein, Warhammer, so`n Fantasyspiel für Nerds."
„Ach, kenn` ich, spielen sie im Fantasyladen auch immer. Nur, wenn Magic-Nachmittag ist, schmeißen wir die raus." Er streckte seine Zunge raus. Der rosarote Kontrast zwischen dem schwarz-weißen Fell, Nick wurde wohlig warm. Am Liebsten hätte er in dieser Sekunde schon sein Herz ausgeschüttet, aber jetzt war nicht die Zeit. Außerdem sahen viel zu viele Leute zu. Innerlich war er total hibbelig, seine Stimme bebte sogar. Er rügte sich, dass er sich nicht früher auf dem Weg zu dem süßen Collie gemacht hatte.
Süß! Und nichts widersprach. Das war im Grunde, was er wissen wollte, es hatte sich nichts geändert, im Gegenteil, es wurde schlimmer.
„Nick? Alles okay?" Flo legte seinen Kopf schief.
„Mh? Ja, geht schon." Der Kater spürte seine Finger zittern. Wie sollte er so nur Skaten morgen?
„Siehst blass aus."
„War nur`n langer Tag," log er. Die Wahrheit würde warten müssen.
„Na gut, hoffe, es geht dir morgen besser. Skaten, du weißt?"
„Klar, passt schon."
„Gut, ich muss los. Bis morgen, dann." Und damit rannte der Collie mit wild wedelndem Tail die Stufen zum naturwissenschaftlichen Trakt hinaus. Ungeahnt gelassen verarbeitete Nick diese Bestätigung. ‚Okay, wenns so ist, dann ... na ... dann ist
s halt so.' Dann nervte ihn die vertrackte Situation doch wieder an. ‚Binnich halt schwul!' dachte er trotzig.
Die folgenden zwei Stunden verbrachte er grübelnd. Hätte man ihn gefragt, an welchem Unterricht er gerate teilnahm, er hätte auf den Stundenplan schauen müssen, um zu antworten. Aber niemand fragte.
Während der kurzen Zeit, die er zu Hause verbrachte, klickte er auf seinem Computer. Er googelte einige Begriffe und las viel über andere Jugendliche. Dreizehn, vierzehn, fünfzehn, sechzehn, bis auf ihre Rechtschreibung unterschieden sie sich nicht wirklich voneinander. Immer das Gleiche: Angst vor`m Coming-out, Angst vor Mobbing, Horrorstories hier und da, Eltern, Rausschmiss, Schulwechsel, Prügel, alles schien dabei zu sein. ‚Dreck! Warum ich? Warum muss das alles so kompliziert sein; und können die uns nicht einfach in Ruhe lassen?'
‚UNS!' Krass! Er drehte das Wort mehrfach in Gedanken. War er wirklich Teil davon? So einfach? So schnell? Naja, vielleicht brauchte nicht alles im Leben eine großartige Tage-, Wochen-, Monate- oder Jahrelange Ankündigung?!
Die Ungewissheit ließ seine Ohren zucken und die zeitgleich stattfindende Vorfreude auf etwas Neues ihn unruhig werden. Positiv unruhig. Es gab Gleichgesinnte und über`s Internet würde er sie erreichen können. Geteiltes Leid war also tatsächlich halbes Leid. War es überhaupt Leid? Er dachte an Florian und alles was er spürte war Wärme. Wenn er seine Gefühle zulassen und ihm dadurch näher sein könnte, wäre das doch gut, oder?
‚Und wenn ich mich irre? Mit allem?'
„Frack! Nicht jetzt!" entschied er und rieb sich über die Ohren. Wie kleine Sprungfedern sprangen sie wieder in Position und so einfach verloren die Zweifel an Kraft. Nick surfte weiter.
Am ergiebigsten und seriösesten kam ihm freeyourself.com vor, eine Coming-out-Webseite für Jugendliche und junge Erwachsene. Der Kater erstellte sich einen Account mit einem anderen Nicknamen als sonst. Er nannte sich NiKat. Positiv fiel ihm auf, dass sämtliche Dialoge ihn Duzten, das war ihm schon mal wesentlich sympathischer als dieses leidige ‚Sie'. Während die Webseite versprach, ‚Dein Account wird überprüft und danach freigeschaltet', machte er sich auf den Weg zu seiner Nachhilfestunde.
Majiit Sumani war ein netter Junge, etwas schüchtern vielleicht. Der junge Ozelot teilte sich ein Zimmer mit seiner kleinen Schwester Siluma. Für Nick war die ganze Wohnung ein einziger Kulturschock, jeder Raum war vollgestopft mit indischen Accessoires, orientalische Teppiche lagen auf dem Boden oder hingen an den Wänden und die Luft roch schwer nach würzigem Essen.
Frau Sumani erklärte ihm kurz angebunden die schulischen Probleme ihres Sohnes und nahm dann, um Ruhe zu gewährleisten, Siluma mit ins Wohnzimmer, während die beiden Feliden sich auf die Bücher stürzten. Sie begannen mit Mathe.
Wie sich herausstellte war Majiit nicht etwa doof und auch seine Schüchternheit legte er rasch ab. Mit jeder Minute taute er mehr auf und wurde quirliger. Jedoch offenbarte er beim Lesen starke Sprachprobleme, was sich, wie Nick vermutete, auch auf sein Lernvermögen in der Schule auswirkte. Der Kater redete langsam mit ihm, er verwendete einfache Worte und Sätze, um dem Jungen die Aufgabenstellung zu erklären. Sobald der verstanden hatte, was der Dreizehnjährige von ihm wollte, löste er die Rechnung ohne Weiteres. Mathe lag ihm zweifellos. Nach einer Stunde machten sie eine Pause und Nick nutzte diese, um Frau Sumani von seinem ersten Eindruck zu berichten. Sie war erleichtert zu hören, dass die Rechnung an sich nicht das Problem war. Nick sollte in der zweiten Stunde Deutsch mit ihrem Sohn machen, denn da sei mehr im Argen.
Im Argen traf es nicht mal ansatzweise, fand Nick. Lesen war fast nicht möglich. Der Kater fragte sich, wie der Junge überhaupt bis jetzt in der Schule durchgekommen war. Er half, so gut es ihm möglich war, brach jedoch nach zwanzig Minuten ab. Stattdessen gingen sie gemeinsam ins Wohnzimmer, wo er Frau Sumani fragte, in welcher Sprache sich die Familie unterhielt, wenn niemand da war.
„In Farsi," antwortete sie wahrheitsgemäß.
Nick nahm etwas Mut zusammen und empfahl, dass sie für Majiit und Siluma Deutsch redeten. Es war eine merkwürdige Situation, er war selber erst dreizehn, ging seinerseits noch zur Schule, stand aber da und belehrte eine erwachsene Frau, eine fremde Mutter?! Sein mutiger Vorschlag schien jedoch offene Türen einzurennen, sie nickte und drehte schuldbewusst die Ohren nach hinten. Sie gab ihm Recht und nicht nur das - gelobte sogar Besserung.
„Ich stelle Deutschlehrer ein für Majiit. Richtige Lehrer. Dann wird besser. Du mache Rechne mit ihm, ja?"
Nick stimmte zu. Er war erleichtert. Angesichts der Größe der Wohnung konnte sie es sich offensichtlich leisten, einen privaten Deutschlehrer zu bezahlen, er fragte sich, was Herr Sumani wohl arbeitete, denn schlecht zu verdienen schien er nicht. Von diesem Wohlstand bekam er fünfzehn Euro ab, als Lohn für seinen heutigen Einsatz. Und sein Ego tanzte vor Selbstvertrauen.
Die gute Laune hielt an, selbst den langsam vergehenden Freitag über konnte ihn nichts aus der Bahn werfen. Wie befürchtet, dachte er zwar jede freie Minute an ‚seinen Collie', aber immer wenn sein Kopf sich auf negative Details stürzen wollte, stoppte ein alles überblendendes ‚Das wird schon werden' etwaige Zweifel. Vollständig verschwanden sie nicht, sie ließen sich kompakten und ein Stück zurückdrängen, aber nicht auslöschen. Stattdessen schoben sie eine kleinen Zusatz hinzu, ein unsicheres ‚...irgendwie?!'
Nick lenkte sich weitestgehend ab, er konzentrierte sich auf den Unterricht und ignorierte die störenden Nager so gut er konnte. Während der ersten Fünfminutenpause, eilte einer von ihnen an die Tafel und schmierte eine Fledermaus mit übergroßem Fledermauspenis an die Tafel. Ihr Spezieskundebuch hatte eine kleine Sektion zur Fortpflanzung, in der die unterschiedlichen Geschlechtsmerkmale sachlich und schwarz-weiß gezeichnet abgebildet waren, vermutlich hatte er es dort entnommen. Es war schlampig, aber mehr als deutlich erkennbar. Nick schämte sich fremd, die Wangen wurden ihm warm, als er gleichzeitig an Florian denken musste.
Er starrte auf die Tafel. Könnte er das, war er das? Schwul sein, das hatte doch was mit Penissen zu tun, oder? Stand er auf Penisse? Florians Penis? Die Vorstellung eines feucht-roten Knotens, wie er im Buch abgebildet was, ließ ihn scheiße nervös werden.
Und .. .steif?! Schon wieder. Frack!
‚Das wird schon werden ...', summte sein inneres Mantra. ‚... irgendwie'
Valeria war gerade dabei, wütend mit dem Schwamm die Zeichnung wegzuwischen, als der Lehrer wieder reinkam. Er mahnte die Schüler an, leise zu sein, er schien genervt, jedoch hatte er den Grund der Unruhe nicht mehr mitbekommen. Die Fledermaus war zu schnell. Der Rest des Vormittags verlief ereignislos, die Stimmung in den anderen Stunden war locker, alle schienen sich auf`s Wochenende zu freuen.
Flo erwartete ihn heute bereits zum Gong. Sogar den Beutel mit den Pads hatte er dabei.
„Hi," begrüßte Nick ihn. „Bist früh dran."
„Hi, ja, der Lehrer hatte keine Lust, da haben wir früher Schluss gemacht." Er warf dem Kater seine Schoner zu. „Los?"
„Klar!"