Wolfsblut - Silentium
#5 of Wolfsblut
Willkommen zu dieser etwas düsteren Story der Wolfsblut-Reihe. Es befinden sich hier Parallelen zu der später spielenden Geschichte von Wolfsblut - Eis.
Dieser Teil geht eher in die Horror/Psycho/Torture-Richtung.
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Achtung!
Die Protagonisten/Handlung/Location sind frei erfunden, jegliche Übereinstimmung mit real existierenden Personen ist reiner Zufall.
Das Copyright liegt bei mir, daher ist es niemandem erlaubt, die Geschichte zu verändern oder unter seinem Namen auszugeben.
Die folgende Geschichte enthält die Geschichte folgendes Material und Fetische. Wem dies nicht zusagt oder wer zu jung ist, der möge nicht weiterlesen.
Violence
Death
Gore
Suicide
Torture
CBT
M/F
Kritik und Kommentare sind immer gern gesehen ;)
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Kapitel 01: Sunhào
„Einen Milchkaffee bitte."
„Und für mich einen Espresso."
Declaire sah ihre Freundin an. Espresso war ungewöhnlich für Lynn.
„Sehr wohl." Nachdem der Kellner verschwunden war, stützte sich die Füchsin auf die verschränkten Hände und seufzte hörbar.
Skeptisch sah Declaire sie an. „Lynn? Ist alles in Ordnung?"
Die sonst so leuchtend grünen Augen der Füchsin waren einem blassen Grau gewichen. Ihr rotes Fuchsfell wirkte stumpf und die einst so sorgfältig zusammengebunden Haare lagen verwuschelt auf ihren Schultern. Ihr zusammengekauerter Körper war in ein normalerweise ordentlich anliegendem weißen Hemd gehüllt, über dem sie eine dunkle Weste und eine Jacke trug, doch heute machte sie so gar keinen adretten Eindruck. Selbst ihre dunkelgraue Hose lag unordentlich umgekrempelt um ihre Beine.
Alles in Allem machte Lynn eine Erscheinung, die Declaire ganz und gar nicht von ihr gewohnt war.
„Es ist nichts", murmelte die Füchsin leise.
„Hey, ich merke doch, wenn etwas nicht stimmt. Mir kannst du es doch erzählen." Declaire schob ihre Hand vor und berührte ihre Freundin am Arm.
Lynn hob den Kopf, wischte sich mit dem Arm durchs Gesicht und bemühte sich um eine freundliche Miene. Sie nickte der Pantherin zu und erklärte: „Wird mir alles zu viel. Ich meine ... so langsam ... irgendwie."
Declaire griff an Lynns Pfote und hakte genauer nach: „Stress an der Arbeit? Oder mit Helen?" Die Pantherin zuckte mit den Ohren. Sie bereute es sofort, Lynn auf Helen angesprochen zu haben. Declaire erinnerte sich, wie viel Zeit und Liebe sie in die Erziehung ihres Kindes gesteckt hatte, doch gedankt wurde es ihr nie. Sie konnte nicht verstehen, wie man sich diese Tortur des Großziehens eines Kindes antun konnte. Lynn war regelmäßig ausgelaugt und kraftlos und bekam keine Unterstützung.
Lynn zuckte mit den Schultern, sah zu der Pantherin im schwarzen Kleid und erwiderte: „Nein. Nicht mit Helen. Koutha."
Nun war Declaire alles klar. Dieser Taugenichts brachte nichts als Kummer, das war ihr schon immer klar gewesen. Sie wusste, dass er Lynn schlecht behandelte und konnte nicht verstehen, wie die Füchsin noch immer an seiner Seite bleiben konnte. Wie oft war es vorgekommen, dass Lynn nach einem heftigen Streit mit Koutha zu Declaire geflüchtet war, nur um letzten Endes doch wieder zu ihm zurückzukehren? Declaire wusste, dass Koutha sogar nicht davor zurückscheute, die Hand gegen seine Frau zu erheben. Und das war nicht alles, sie wusste durch eigene Nachforschungen einige weitere Geheimnisse über Koutha Barjun.
Ehe sie antworten konnte, war der Kellner wieder an den Tisch getreten und brachte den Kaffee.
„Dankeschön", sagte Declaire lächelnd und der Kellner verschwand an einen Nachbartisch. Zum Glück war das Café nicht all zu voll. Declaire gefiel die rustikale Atmosphäre dieses Cafés und so war das Three Pots bereits ihr Stammlokal geworden.
Normalerweise war Lynn auch gern hier und zeigte sich von ihrer fröhlichen und albernen Seite. Doch heute war wieder einer dieser Tage, an denen Lynn ständig von einer Wolke der Traurigkeit begleitet wurde.
„Nun erzähl schon. Was hat er gemacht?", fragte Declaire neugierig. „Muss ich Mister Haver benachrichtigen, damit er diesen Idioten endlich in den Knast bringen kann? Da gibt es sicher einiges, was sich noch herausfinden lässt."
Lynn betrachtete die Pantherin, die sie erwartend ansah und unruhig ihr langes Haar um den Finger wickelte.
„Nun ja ..." Mit scharfem Blick sah sich Lynn im Three Pots um, ob jemand lauschte, doch niemand achtete auf die beiden jungen Damen. „Es war vorgestern. Ich hatte früher Schluss. Bin direkt nach Hause gefahren. Hab seine Klamotten im Flur gefunden. Fand ich sehr komisch. Bin die Treppe hoch zum Schlafzimmer. Da hab ich es schon gehört. Hab die Tür aufgerissen und dann ..."
„Nein!" Declaire riss empört die Augen auf.
„Doch! Und wenn ich es dir sage! Er lag mit einer anderen im Bett. Diese ach so hübsche Verkäuferin aus der Bäckerei."
Nun konnte Declaire nachvollziehen, warum ihre Freundin so bedrückt war. Sie wusste, dass Koutha Lynn fremdging, selbst einem Besuch des Bordells nicht scheute, doch hatte es Declaire zuvor nicht übers Herz gebracht, es ihrer Freundin zu erzählen. „Hast du ihn wenigstens gleich vor die Tür gesetzt?"
Lynn wich den gelben Pantheraugen aus. „Nein. Konnte ich nicht." Sie nippte an ihrem Espresso. „Ich hab meine Sachen gepackt und bin mit Helen nach Bide Creeve. Harbour Hotel. Für's Erste."
Declaire nickte. „Ist wohl erst mal besser." Sie ballte die Fäuste. „Dieser Kerl gehört kastriert!"
Lynn zeigte ein leicht amüsiertes Lächeln. „Ja."
Declaire nahm einen Schluck aus der Tasse und verbrannte sich am heißen Kaffee. „Oh wenn ich könnte, ich würde ihm eigenhändig die ..."
„Claire?" Lynn legte ihre Hand offen auf den Tisch.
Declaire sah die Hand und bemerkte die kleine Kette, die sie um das Handgelenk trug. Eine feine Goldkette mit fünf roten Perlen, auf denen je ein kleines Zeichen gemalt war. Declaire erinnerte sich, dass sie diese Kette vor vielen Jahren selbst gemacht hatte und Lynn diese geschenkt hatte. Die Symbole waren Schutzrunen, für deren Wirkung und Geschichte sich Declaire in ihrer Jugend interessiert hatte.
Die Pantherin sah in die violetten Augen Lynns und legte ihre Pfote auf die Handfläche der Füchsin. Es war nur eine federleichte Berührung, als Declaires Fingerspitzen über Lynns Handinnenseite strichen. Declaires Nackenfell sträubte sich und ein elektrisches Prickeln zog sich an ihrer Wirbelsäule hinauf, während ihr Puls in die Höhe schnellte.
„Ich brauche etwas Ablenkung von dem Ganzen, allerdings ..." Lynn zögerte. „Das Hotel ist auf Dauer ziemlich teuer. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll."
„Dafür finden wir schon eine Lösung", sagte Declaire fest. „Und was Ablenkung angeht ..." Sie begann zu grinsen. „Da werden wir schon etwas finden."
„Da bin ich sicher. Oh, ich habe gehört, dass demnächst Iron Fox nach Bide Creeve kommen soll. Du weißt doch, dass mir dieser Marek so gut gefällt. Gehst du mit mir zu ihrem Konzert?"
Declaire rollte mit den Augen. „Das ... meinte ich zwar nicht ... aber ... wenn du unbedingt möchtest."
Lynn hielt Declaires Pfote fest und sah ihr glücklich ins Gesicht.„Ich bin froh, dass ich dich trotz alldem an meiner Seite hab."
Die herzlichen Worte der Füchsin legten einen Schleier der Freude um Declaires Schultern. „Ich werde immer an deiner Seite sein. Versprochen."
*
Die Augenlider zuckten und sie gab ein unbehagliches Brummen von sich. Schwerfällig blinzelte sie und schließlich öffneten sich die Augen. In einem Anflug tiefen Schocks stellte sich Declaires Fell auf. „Wo bin ich?", fragte sie sich.
Reine Schwärze umgab sie, als wäre sie in tiefste Nacht gefangen. Sie schaute hinab auf ihre Hände, die sie trotz der herrschenden Schwärze deutlich sehen konnte. „Ein schwarzer Raum? Was ist das für ein Ort?"
Auch nach einem Blick um sich war die Pantherin nicht schlauer. Alles war von Schwärze erfüllt und keine Grenze kam in Sicht. Das kalte Schwarz der Dunkelheit umspülte sie wie eine eisige Welle. Declaire bekam kaum Luft und sie spürte die Dunkelheit mit jeder Faser ihres Körpers.
„Declaire Verno'nh."
Mit einem Schrei fuhr die Pantherin herum. „Wer ist da?"
Plötzlich wurde Declaire von einem Licht umhüllt, das ihr Fell wieder glätten lies. Vor ihren Augen bildete sich eine weiße Fläche, die die Schwärze zu verdrängen schien.
Declaire kniff die Augen zu, da sie die plötzliche Helligkeit blendete. Schützend hielt sie die Arme vor das Gesicht und versuchte zu erkennen, was vor sich ging.
Das grelle Leuchten ließ nach und legte ein prunkvolles Tor frei. Vor ihren Augen erstreckte sich das riesige Tor, das mit vielen silbernen Ornamenten verziert war. Das dunkle Holz knarzte, als sich das Tor öffnete. Ein Lichtstrahl trat aus der ffnung und blendete die Pantherin.
Declaires Fell prickelte vor Anspannung, als sie gebannt auf das Tor sah.
Eine junge Frau trat aus dem Lichtstrahl und gab sich zu erkennen.
„Wow!" Die gelben Pantheraugen wurden groß bei dem Anblick, der sich ihr erbot.
Die fremde Yokai, die aus dem Tor trat, hatte eine zierliche, gar kindliche, Gestalt.
Declaire schätzte sie auf eine Füchsin. Weiches Fell in milchig hellbunten Farben lag ordentlich gebürstet um die junge Frau. Ein weites Kleid in den Farben frischer Kirschblüten umspielte die schlanken Beine der Füchsin. Ein lockeres weißes Hemd lag auf ihren Schultern, während ihr Bauch von einer Korsage geschmückt wurde.
Verführerisch wickelte die Füchsin einen Finger um die rosafarbene Lockenpracht, während sie Declaire aus leidenschaftlichen Augen ansah, die in der Farbe blühenden Lavendels leuchteten.
Declaires Wangen erröteten, doch dann schüttelte sie sich und strich sich verlegen die Haare aus dem Gesicht.
„Mein Name lautet Sunhào." Die Stimme der Füchsin war so weich, dass sie sich wie ein Hauch aus Federn um die Pantherin schmiegte.
Nervös ging Declaire einen Schritt auf die Füchsin zu. „Sunhào?"
Aus der Nähe konnte Declaire gut die perfekten Gesichtszüge Sunhàos erkennen. Eine kleine Stupsnase, die die gleiche Farbe wie die Augen hatte, eine grazile Schnauze und traumhaft große Augen mit langen und sanft geschwungenen Wimpern. Die Frisur schmiegte sich an ihre Wangen und ein leichtes Lächeln lag auf ihren Lefzen.
„Weißt du, weshalb du hier bist, Declaire?", wollte die Füchsin wissen.
Die Pantherin bleib zwei Schritte von ihr entfernt stehen und gab zu: „Nein."
Sie meinte ein zufriedenes Glänzen in Sunhàos Augen erkennen zu können. Unbehagen machte sich in Declaires Bauch breit.
„Keine Sorge. Ich werde es dir zeigen."
Plötzlich flutete gleißendes Licht den Ort und alles vor Declaires Augen verschwamm. Sunhào verschmolz mit der Umgebung, bis nur noch ihr leises Kichern zu vernehmen war. Wie ein sanfter Hauch legte sich das Licht um den Körper der Pantherin.
Als Declaire die Augen wieder öffnete, war Sunhào verschwunden und das Licht mit ihr. Die Pantherin fand sich in einem leeren Gang wieder. Offenbar ein sehr altes Gebäude, da die Tapete bereits zerschlissen und der braunviolette Holzboden brüchig war. Geöffnete Türen gähnten in einer Reihe links und rechts von Declaire.
Sie ging einen Schritt über den knarzenden Boden und ein kühler Schauer wehte ihr durchs Fell. Declaire hatte keine Ahnung, wo sie war, doch dieses Gebäude ließ ihr Fell zu Berge stehen. Die offen stehenden Türen führten in reine Schwärze und Declaire hatte das Gefühl, dass sie beobachtet wurde.
Sie spähte ans Ende des Ganges, an dem sie im Schatten die Gestalt eines Yokai wahrnehmen konnte.
„Claire!", rief die Fremde ihr zu.
Die Angesprochene riss die Augen auf. Sie erkannte die Stimme genau. „Lynn!"
Die Füchsin im roten Pelz trat aus dem Schatten der gähnenden Tür am Ende des langen Flures.
Declaire kniff die Augen zusammen. Der Flur war lang, doch konnte sie die Füchsin gut erkennen. Ein weites Kleid purer Reinheit legte sich um den Körper der Füchsin.
„Ist das ein Hochzeitskleid?", fragte die Pantherin sich.
„Claire!", schrie Lynn und wollte durch den Flur rennen. Plötzlich erschienen weitere Personen, die aus den Türen links und rechts von Lynn traten. Ehe die Füchsin zu Declaire rennen konnte, wurde sie von den vier Fremden festgehalten.
Declaire konnte die fremden Yokai nicht erkennen, doch wusste sie, dass ihre Freundin in Schwierigkeiten steckte. Sie rief ihren Namen und rannte los. Federleicht flog sie über den Boden und kam der Füchsin näher.
Die vier Yokai, die Lynn an den Armen gepackt hielten, sahen nun zu der nahenden Pantherin. Ihre Augen glühten unheimlich auf und ein verzerrtes Grinsen lag in ihren Gesichtern.
Declaire schrie auf, stolperte und fiel zu Boden. Der Aufprall nahm ihr für einen Moment die Luft und stöhnend schaute sie auf. Sie war nur wenige Meter von der Füchsin entfernt, die mit verstörtem Blick zu ihr sah. Die Pantherin konnte erkennen, wie sich Lynn versuchte vom Griff der Fremden loszureißen, doch war sie nicht stark genug, um sich zu befreien.
Declaire biss die Zähne zusammen und ein loderndes Feuer erschien in ihren Augen. Wie konnten es diese Fremden wagen, Lynn gegen ihren Willen festzuhalten?
Die Pantherin sah hinter sich und bemerkte, dass sich schwarze Fäden, dünn wie Haare, um ihr Fußgelenk gewickelt hatten, die sie wohl zu Fall gebracht hatten. Declaire folgte dem Verlauf der Haare, doch sie führten weit hinter sie, bis sie von der Schwärze verschluckt wurden. Kaum ein Lichtschein traf den Flur und so konnte sie das Ende, von dem sie gekommen war, nicht mehr erkennen.
Declaire stand auf und versuchte, sich von den schwarzen Haaren zu befreien.
Plötzlich schrie Lynn wieder: „Claire!"
Als Declaire in Lynns Richtung sah, bemerkte sie, dass diese von den Fremden fortgetragen wurde.
Erneut rief die Füchsin nach Declaire und streckte den Arm nach ihr aus, während sie von den Schatten umhüllt wurde.
Die Pantherin riss ihren Fuß von den Haaren und stürmte los. Sie rief ihrer Freundin nach und versuchte sie einzuholen, doch plötzlich wurde sie langsamer. Ihre Füße bewegten sich schwerfälliger und als sie zu Boden blickte, bemerkte sie, dass dieser von einer dicken Schicht Haare durchzogen wurde. Declaires Füße verhedderten sich in den langen Strähnen und sie hatte Mühe, nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
„Was zur Hölle ist hier nur los?", keuchte sie, während sie sich durch die Masse aus Haaren arbeitete, immer noch ihr Ziel vor Augen, Lynn zu befreien.
Die Füchsin war nur noch als Schreien in der Ferne zu vernehmen, die aus den Schatten des nicht enden wollenden Flures schallten.
Mühsam kämpfte sich Declaire weiter, doch langsam bekam sie das Gefühl, dass es mit jedem Schritt schwieriger wurde, voran zu kommen. Als sie nach unten blickte, meinte sie, ihren Augen nicht mehr trauen zu können. Die Haarsträhnen schienen sich zu bewegen, als wären sie Lebewesen. Wie Schlangen bewegten sich die Strähnen um ihre Beine und umwickelten diese.
„Hey, was soll das! Lasst mich ...!" Weiter kam Declaire nicht, denn plötzlich schoss eine schwarze Haarsträhne hoch und wickelte sich um ihren Kopf. Ihre Augen und ihr Mund wurden verdeckt.
Panik ergriff Declaire und sie fuhr ihre Krallen aus. Sie packte an die Haare, die ihr die Luft zu nehmen drohten, und riss an ihren.
Einzelne Haare fielen zu Boden, doch es waren zu viele, die sich immer enger um ihr Gesicht schlangen.
Ein erstickter Schrei kam von Declaire, als sich weitere Haarsträhnen um ihre Handgelenke wickelten und sie nach unten zogen. Declaire konnte sich nicht mehr von den Haaren befreien und war fest im Griff. Sie drückte mit aller Kraft gegen die Welle der schwarzen Masse an, doch die Haare gaben nicht nach.
Immer mehr Haare schlangen sich um ihren Körper und zogen sie zurück.
Declaire hatte keine Chance mehr, sich zu befreien. Sie versuchte auf den Beinen zu bleiben und sich gegen den Zug zu stemmen, doch dieser wurde immer stärker. Schließlich gab Declaire nach und sie wurde nach hinten umgerissen. Die Haarsträhnen zogen sie in die Finsternis des Flures, in dem jedes Licht erlosch.
Die Schwärze vor Declaires Augen verschwamm und je fester sie von den Haaren umschlungen wurde, desto schwächer wurde sie. Ihr wurde schummrig und langsam schien sie das Bewusstsein zu verlieren. Schließlich wurde sie von den Schatten eingehüllt und sie fiel in die bodenlose Tiefe. Der Schrei Lynns hallte noch in ihren Ohren wider, dann wusste Declaire nichts mehr.
„Declaire."
Die Pantherin zuckte mit den Ohren, als sie die weiche Stimme hörte. Sie fühlte sich wie Balsam auf ihrer Haut an.
„Declaire. Du musst dich entscheiden!"
Declaires Augen schlugen auf und sie fand sich am Boden liegend vor. Die Stimme hallte noch in ihren Ohren und sie spürte eine Präsenz, doch diese verflüchtigte sich schnell wieder. Ihr Hals schmerzte von dem Ringen nach Luft und ihr Körper fühlte sich taub an.
Nur langsam wurde ihre Sicht klarer und sie entdeckte eine große, silberne Fläche vor ihren Augen. Sie rieb sich die Nase und zog ihre Beine an. Langsam bekam sie wieder Gefühl in ihre Glieder und sie hob den Oberkörper.
„Wo bin ich hier?", fragte sie sich und warf einen Blick um sich. Kein Haar war mehr um ihren Körper geschlungen und sie war unversehrt, als wäre nie etwas gewesen. „Bin ich tot?"
Sie stützte sich mit den Armen vom Boden ab und sah sich um. Sie lag auf hartem Gestein, dessen Kälte in ihre Glieder fuhr und sie betäubte. Das Gestein war ordentlich glatt geschliffen und hatte eine dunkle Farbe, die einem späten Abendhimmel glich. Filigrane Muster waren in das violette Gestein gearbeitet, das sich weit in die Ferne zog, bis es nicht mehr zu erkennen war.
Declaire hievte sich schwerlich auf die Beine, auf denen sie noch etwas wackelig stand und drehte sich um. Sie konnte keine Wände und auch keine Decke erkennen, alles führte in tiefe Schwärze. War sie in einem Raum? War sie draußen in der Nacht? Aber sie konnte auch keinen Nachthimmel oder Sterne erkennen. Da war lediglich der violette Steinboden und fünf Flächen, die im Kreis um sie herum standen. Ihr Blick war noch zu verschwommen, um genau zu erkennen, um was es sich handelte.
Als sie sich wieder umdrehte, bemerkte sie die große Fläche im Zentrum des Kreise, vor dem sie gelegen hatte.
„Ein Spiegel?"
Verwundert starrte sie auf die glatte Fläche des geschliffenen Silbers. Dunkle Verzierungen schmückten den Rand des Spiegels und je mehr sich Declaire darauf konzentrierter, desto klarer wurden auch die Konturen der gräulichen Linien. Spitze Zacken ragten wie Reißzähne auf die verspiegelte Fläche und als Declaire nach oben schaute, bemerkte sie zwei weiße Edelsteine, die in den Spiegel eingebaut waren. Wie zwei Augen funkelten die Edelsteine sie an und Declaire fiel auf, dass der Spiegel wie ein riesiges Ungeheuer aussah, das sein Maul aufriss und den Betrachter zu verschlingen drohte. Die Pantherin wich einen Schritt zurück und versuchte sich bewusst zu machen, dass dies kein echtes Monster, sondern nur ein morbid gestalteter Spiegel war.
Sie betrachtete ihr Spiegelbild und bemerkte, wie unordentlich sie aussah. Declaire strich sich mit den Händen das nachtschwarze Fell glatt, das sich um ihren gesamten Körper zog. Die Bänder, die ihre Korsage zusammenhielten, hatten sich gelockert und so zog Declaire sie wieder fest. Das Gestell in der Farbe rosigen Goldes schnürte sich eng um den Körper der jungen Pantherin und formte diesen. Nicht nur, dass sie sich selbst attraktiver in einer Korsage fand, so half diese ihr auch, einen geformten Körper zu wahren, der für ihre Arbeit wichtig war.
Ein schwarzes weites Kleid mit filigraner Spitze umspielte ihre langen Beine. Die dunkle Kleidung bildete kaum Kontrast zu ihrem schwarzen Fell, als würde sie mit ihrem Körper verschmelzen. Lediglich die gelben Augen stachen aus dem düsteren Erscheinungsbild hervor, ebenso wie die langen Haare, durch die Declaire nun ihre Hände fahren lies. Die Haare reichten ihr knapp über die Taille und waren großbogig gelockt, wie rauschende Wellen des Meeres. An ihrem tiefem Scheitel war erkennbar, dass ihre Naturhaarfarbe ein dunkles Braun war, das bitterer Schokolade glich, jedoch färbte es sich kurz nach dem Haaransatz in ein sanftes Rosa.
Declaire ließ von ihrem Spiegelbild ab und betrachtete wieder ihre Umgebung. Noch immer war ihr nicht klar, wo sie sich befand, doch nun konnte sie erkennen, was für Gebilde um den Spiegel im Kreis standen.
„Das sind ... Türen", bemerkte Declaire und trat von dem Spiegel weg. Wie bei einem Steinkreis waren die Türen im Kreis aufgebaut, in dessen Zentrum der große Spiegel mit aufgerissenem Maul stand.
Declaire durchschritt den Ort und ging an den Türen vorbei. Es befanden sich keine Wände an dem Ort und so konnte sie sich nicht erklären, welchen Sinn die Türen hatten. Sie ging um eine der Türen herum und betrachtete sie von der anderen Seite. „Was ist das bloß für ein Ort?"
Sie ging zur nächsten Tür und ihr fiel auf, dass alle Türen unterschiedlich aussahen. Während die vorige noch eine knorrige Holztür war, die auch zu einer Waldhütte hätte gehören können, war die nächste aus kaltem Stahl. Ein Blick um sich verriet Declaire, dass auch die anderen Türen ein individuelles Aussehen hatten.
Als sie wieder auf die Tür vor sich blickte, entdeckte sie ein Zeichen über der Klinke, das mit roter Farbe gemalt war. Sie strich mit der Fingerspitze die Linien entlang und fragte sich, was es damit auf sich hatte. „Irgendwie kommen mir die bekannt vor."
Sie blickte auf und dachte an das verstörte Gesicht Lynns, als sie von den Fremden fortgetragen wurde. Ihr Schrei hallte noch in Declaires Ohren und ein wehmütiger Ausdruck zog sich durch ihr Gesicht. „Ich hatte sie nicht retten können."
Sie blinzelte. „Vor wem hätte ich sie eigentlich retten müssen?" Sie versuchte sich an die fremden Yokai zu erinnern, die Lynn entführt hatten. Einen von ihnen konnte sie sofort zuordnen. „Koutha Barjun, Lynns Ehemann. Der Mann, der sie schlecht behandelt, geschlagen, niedergemacht und sie letztendlich betrogen hat. Dieser Mistkerl."
Declaire versuchte sich die anderen Yokai bildlich vor Augen zu führen. Da war ein junges Mädchen in einem weiten Kleid und langen Ohren. „Helen! Die Adoptivtochter von Lynn und Koutha", erinnerte sie sich. „Aber warum war sie dort?"
Sie erinnerte sich, dass Lynn sich öfter bei ihr beklagt hatte, dass Helen Phasen hatte, in der sie sehr schwierig sei. Helen hätte ein großes Interesse an morbiden und okkulten Themen. Lynn hatte erzählt, dass Helen behauptete, sie könne mit der Totenwelt kommunizieren. Vielleicht waren die Probleme und Schwierigkeiten einer Mutter so weit umfassend, dass man sein Kind als persönlichen Teufel ansehen konnte.
Das Gesicht des dritten Yokai erschien vor Declaires geistigem Auge. Es hatte sich um einen älteren Dachs gehandelt. „Woher kenne ich den?", fragte sie sich und kramte in ihrem Gedächtnis. Sie wusste, dass sie ihn kannte, doch das war bereits eine Weile her.
„Das ist es. Mister Haver. Privatdetektiv. An den hatte ich mich mal gewandt, als mich ein Auftraggeber über den Tisch gezogen hatte. Aber was hat der mit Lynn zu tun?"
Sie rieb sich die Stirn. Declaire hatte bereits in ihrer Schulzeit als Malerei- und Fotomodel gearbeitet und wurde auf ein perfektes Aussehen getrimmt.
„Eines Tages, wenn die perfekte Schönheit Vergangenheit ist, werde ich mich umsehen müssen", murmelte sie und blickte an sich herab. „Das kann noch eine Weile dauern."
Sie versuchte sich an die letzte Person zu erinnern, die an Lynns Entführung beteiligt war, doch ihr wollte niemand einfallen, der zu dem Gesicht passte. Declaire wusste lediglich, dass es sich um einen Fuchs in einem gelblichen Pelz handelte. „Nie zuvor gesehen. Was wollten die mit Lynn anstellen? Oh ich muss sie unbedingt finden."
Sie hatte nicht bemerkt, dass sie während ihrer Gedankengänge im Kreis gelaufen war und immer wieder die Türen passiert hatte. Als sie nun aufblickte, stand sie vor einer rostigen Stahltür mit altmodischer Klinke. Auch an dieser Tür war ein Zeichen aufgemalt, dessen Farbe an dem alten Metall hinablief. Skeptisch betrachtete sie die Flüssigkeit, die wie frisches Blut aussah, die man an die Tür geschmiert hatte.
Zögernd hob Declaire den Arm und legte die Pfote auf die Klinke. Sie wusste, dass sich hinter der Tür nichts außer der tiefen Schwärze befand, doch ihr Fell prickelte vor Aufregung, als sie den Griff umfasste. Kalt fühlte sich der Stahl auf ihren Fingern an und ein Strom des Eises durchzog ihren Körper, bis er in ihrem Kopf angelangt war. Eine frische Welle überflutete sie und vor ihren Augen erschien das Bild Kouthas, der hämisch grinste. Der graue Hase brachte Declaires Schweif zum Peitschen. Sie wusste nicht, warum sie genau jetzt an den Ehemann Lynns denken musste, doch das Grinsen in seinem Gesicht entfachte Wut im Körper der Pantherin.
Sie spannte die Muskeln an und wunderte sich bereits, dass der Türgriff unter ihrer Faust nicht bereits zerbrochen war.
„Tu es. ffne die Tür", hauchte eine sanfte Stimme in Declaires Ohr.
Die Pantherin blickte hinter sich, doch sie sah niemanden. „Sunhào?"
Sie drückte die Klinke und zog die Tür auf.
Ihre Augen weiteten sich bei dem Anblick, der sich ihr erbot. Ein völlig anderer Raum befand sich hinter der Tür. Entsetzt ging sie einen Schritt zur Seite und spähte an der Tür vorbei, doch dort fand sie nur die tiefe Schwärze vor, die schon die ganze Zeit dort war. „Das ist doch gar nicht möglich", überlegte sie, als sie wieder vor der Tür stand. Flackerndes Licht war erkennbar und Declaire konnte einen metallischen Boden erkennen.
Ihr Kopf drehte sich. Das, was sich ihr hier erbot, widersprach allem, was sie für wirklich empfand, doch ihr Innerstes drängte sie dazu, durch die Tür zu gehen.
Declaire warf noch einen kurzen Blick hinter sich, wo der große Spiegel stand, dessen gleißende Augen sie gierig ansahen. Die Pantherin nahm einen tiefen Atemzug und trat durch die Tür.
Weißes Licht überflutete sie, als sie die Türschwelle passiert hatte und sie kniff die Augen zu. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.
Declaire bemerkte, dass die Metalltür nun verschlossen war. Sie warf einen Blick neben sich, wo sich eine Werkbank befand, die mit allerlei Werkzeugen ausgestattet war. Hammer, Sägen, Schraubenzieher und ähnliche Dinge, mit denen Declaire nie zu tun gehabt hatte, waren hier aufgereiht.
Ihr Blick ging weiter. Neben der Werkbank stand eine Schaufel, eine Harke und ähnliche Gartenutensilien. Die Wände waren mit kaltem Backstein verkleidet und das flackernde Licht gab dem staubigen Ort einen ziemlich schäbigen Eindruck.
Declaires Blick heftete sich auf eine Ecke des Kellerraumes. Ein rostiges Bettgestell stand hier, auf der eine fleckige Matratze lag.
Declaire hielt sich die Nase zu, bei dem Gestank, der in dem Raum schwebte. „Mir wird schlecht", murmelte sie.
Plötzlich flackerte das Licht und es wurde für den Bruchteil einer Sekunde schwarz im Raum. Als das Licht wieder ansprang, bemerkte Declaire, dass jemand auf dem vergilbtem Bett lag.
Die Pantherin schrie auf, als sie die Frau erkannte. „Lynn!"
Die junge Füchsin lag rücklings auf dem Bett und trug noch immer ihr weißes Kleid. Sie war an Armen und Beinen am Gestell des Bettes festgeschnallt und schien nicht in der Lage, sich zu bewegen.
Lynn hob den Kopf und erkannte ihre Freundin. „Claire! Hilf mir!"
Der Beschützerinstinkt in Declaire war geweckt, doch ehe sie sich auch nur einen Zentimeter bewegen konnte, flackerte das Licht erneut und eine weitere Person stand im Raum.
Declaire hielt inne und sah auf den Yokai. Das graue Fell und das hämische Grinsen war ihr nur allzu bekannt. „Koutha!"
Die unnatürlich hellen Augen des Hasen sahen die Pantherin abfällig an. Er streckte den Arm zu ihr aus und plötzlich brachen Ranken aus dem Boden, die sich um Declaires Beine schlangen. „Nein! Nicht schon wieder so was!", brüllte sie und trat nach der schwarzen Schlingpflanze, doch sie wuchs zu schnell nach und umhüllte ihre Beine schließlich gänzlich.
Koutha betrachtete amüsiert, wie Declaire mit den Ranken zu kämpfen hatte und wandte sich schließlich Lynn zu. Sein enganliegendes Shirt aus schwarzem Leder ließ viel Sicht auf die kräftigen Arme des Hasen frei. Ebenso freizügig war auch die Lederkleidung, die er am Unterkörper trug.
Lynn blickte ehrfürchtig von ihrem Platz aus zu Koutha auf. Sie entdeckte die Lederpeitsche in seiner Hand und das kalte Grauen packte sie.
Declaire stöhnte auf, als sie schließlich gänzlich im Rankengewirr gefangen war. Diesmal blieben ihre Augen verschont und so konnte sie genau beobachten, was geschah.
Koutha trat an das Bett und sah mit breitem Grinsen auf die Füchsin herab. „Der Fuchs und der Hase. Heute Nacht zeige ich dir, wer in der Rangfolge oben liegt", raunte Koutha und stieg auf das Bett.
Lynn war zu perplex, um zu antworten. Mit geistesabwesendem Blick starrte sie Koutha an, der sich über sie kniete und ihr Kleid beiseiteschob.
Declaire versuchte sich von den Ranken zu befreien, doch je mehr sie sich wehrte, desto enger schlangen sie sich um ihren Körper.
Als die Pantherin einen Aufschrei Lynns hörte, sah sie auf.
Koutha riss an dem Stoff des Kleides, bis dieser nachgab. Ein Fetzen nach dem anderen flog auf den Boden, bis das Kleid nicht mehr als solches zu erkennen war. Fast gänzlich nackt lag Lynn nun in dem Bett, unfähig, etwas zu tun. Sie rüttelte an den Fesseln, die sie fest hielten.
„Bitte ... Koutha", flehte sie.
Doch vergebens.
Declaire konnte erkennen, wie Koutha den Reißverschluss seiner Shorts öffnete und sich über Lynn beugte. Das Nächste, was die Pantherin wahrnehmen konnte, waren die Schmerzensschreie ihrer Freundin.
Sie knirschte mit den Zähnen und ballte die Fäuste. Ihre Krallen gruben sich in ihre Handflächen, sodass das Blut hervorquoll. Zornerfüllt schrie Declaire und riss an den Ranken, die nur schwerlich zu zerbersten waren.
Plötzlich drang ein sanftes Hauchen an Declaires Ohren: „Sie dachte, ihr Mann würde sie achten und lieben."
Declaire versuchte den Ursprung der Stimme auszumachen, doch sie erkannte niemanden.
„Siehst du, dass diese Liebe nur Schmerz und Leid bringt?", fragte die fremde Stimme.
Declaires Pupillen wurden zu schmalen Schlitzen. „Ja! Das hat Lynn nicht verdient!"
„Man darf sich eben nicht auf jemanden einlassen. Siehst du, wie er sie foltert? Hörst du ihre Schreie? Spürst du ihren Schmerz?"
„Ja verdammt!", schrie Declaire. Sämtliche Fasern ihres Körpers pulsierten vor Energie des Hasses.
„Willst du ihn dafür bestrafen, was er Lynn antut?"
Declaire betrachtete Koutha, der die Füchsin quälte und folterte. Sie meinte sogar Blut zu sehen, das sich über die verbleibenden Fetzen des weißen Kleides verteilte. „Ja. Er muss büßen."
„Dann bestrafe ihn!"
Declaire sah verwundert auf, als plötzlich ein schlitzendes Geräusch erklang und die Ranken von ihrem Körper fielen. In kleinsten Fetzen landeten die Rankenstücke am Boden, wo sie leblos liegen blieben. Einen Moment blickte Declaire in Sunhàos Augen, die plötzlich vor ihr aufgetaucht war.
„Danke, Sunhào." Die Pantherin stürmte durch den Raum, griff sich die Gartenschaufel, rannte auf das Bett zu und schrie auf. Sie ließ die Schaufel durch die Luft sausen und schlug mit aller Kraft ihres Hasses auf Koutha ein. Mit einem dumpfen Geräusch traf sie den Hasen am Kopf. Die gewaltige Kraft des Schlages schleuderte Koutha vom Bett und warf ihn zu Boden.
Durch den mächtigen Schwung entglitt die Schaufel Declaires Hand und schlitterte neben den Hasen auf den Boden, der einen Moment reglos liegen blieb. Declaire betrachtete Koutha einen Augenblick und fragte sich schon, ob sie ihn getötet hatte. Sie konnte es sich nicht erklären, doch irgendwie fühlte sie sich erleichtert, selbst wenn sie Koutha umgebracht hätte, empfand sie keine Reue.
„Lynn!" Declaire eilte zum Bett, um Lynn von ihrer Pein zu befreien. Doch als sie auf das Bett starrte, spürte sie einen eiskalten Schauer durch ihr Fell fahren.
Auf dem Bett lag niemand mehr.
Lediglich die Bein- und Armfesseln waren noch ans Bettgestell geknotet und in der Mitte des Bettes war ein roter feuchter Fleck zu erkennen.
Declaire betrachtete den Fleck und wusste sofort, dass es frisches Blut war.
Lynns Blut.
Die Pantherin drehte sich in die Richtung, in die sie den Hasen geschleudert hatte. „Wo ist Lynn!", brüllte sie. Ihr fiel auf, dass auf dem Boden weder der Hase, noch die Schaufel lagen. Ihr Fell sträubte sich, als sie plötzlich die Präsenz der Dunkelheit nah an ihrem Körper spürte. Sie drehte den Kopf und bemerkte Koutha, der hinter ihr stand und die Schaufel durch die Luft sausen ließ.
Declaire wurde seitlich am Kopf getroffen und taumelte kreischend zurück.
Einen Moment lang wurde Declaire schwarz vor Augen, doch sie hielt sich auf den Beinen. Der Schlag hatte gesessen und Blut lief über ihre Augen. Sie stieß gegen die Werkbank und stützte sich mit den Armen an dieser ab, um nicht zu stürzen. Declaire sah zu Koutha auf, dem das Blut aus der Nase lief.
Koutha hielt die Schaufel fest umklammert, während er mit der freien Pfote an dem Reißverschluss seiner Shorts herumspielte.
„Na warte! Dich mach ich fertig!", brüllte Declaire, griff blind hinter sich auf die Werkbank und bekam einen Gegenstand zu fassen. Kreischend stürmte sie auf Koutha zu und rammte ihn, sodass dieser rücklings zurücktaumelte und gegen das Bettgestell stieß.
Koutha verlor der Halt und fiel auf das Bett. „Was zum ...?"
Der Hase blickte auf und sah Declaire, die mit eiskaltem Blick auf ihn hinabstarrte, in ihrer Hand hielt sie die Waffe. Ein schmaler Schraubenzieher mit rotem Griff, den die Pantherin fest umklammert hielt.
„Du miese kleine Ratte!", knurrte Declaire und betrachtete einen Augenblick lang ihr Opfer auf dem blutbefleckten Bett, ehe sie in einem Schrei den Schraubenzieher auf ihn hinabrasen lies. Das spitze Metallstück zielte auf Kouthas Schritt und durchbohrte das Leder mit Leichtigkeit.
„Das ist meine Rache!" Der Schraubenzieher wurde tief in den Körper Kouthas gerammt.
Ein lautloser Schrei entglitt Kouthas Kehle, als er spürte, wie das Metall seine Weichteile durchbohrte und bis zum Griff in seinem Körper verschwand.
„Ich hoffe, es tut weh. Auch wenn es nur ein Bruchstück von Lynns Schmerz ist." Declaire riss ihren Arm wieder hoch und zog den Schraubenzieher aus dem Unterkörper des Hasen. Eine Blutspur folgte dem Werkzeug, während Declaire dieses erneut hinabstieß und ein zweites Loch in Kouthas Unterkörper bohrte.
Die Augen des Hasen wurden glasig und sein Schrei fand nun doch Stimme. Ein ohrenbetäubendes Kreischen entglitt seiner Kehle, während er bewegungslos auf dem Bett lag. Er hatte keine Kontrolle mehr über Arme und Beine und konnte nichts weiter tun, als die Pein zu ertragen. Der Schmerz lähmte ihn, während das Blut sein Fell und das Bett besudelte.
Ein dritter Stich folgte dem zweiten und Declaires Augen bekamen einen immer wilderen Blick. Erneut stach sie zu und das Blut spritzte ihr ins Gesicht. Ein Stich folgte dem nächsten und schließlich ließ sie von ihm ab.
Sie sah auf den reglosen Körper des verwundeten Hasen herab und ließ den blutigen Schraubenzieher aus ihrer Hand fallen. Nun kehrte doch die Reue in Declaires Augen und sie betrachtete schockiert ihr Werk.
Koutha war bewusstlos und würde bald verblutet sein.
Sie hatte ihn getötet.
„Er hatte es verdient", hauchte eine Stimme in Declaires Ohr.
„Sunhào?" Declaire fragte sich, wo die Füchsin auf einmal herkam. Als Sunhào sie von den Ranken befreit hatte, war sie verschwunden gewesen, doch nun tauchte sie wieder neben ihr auf und betrachtete zufrieden den getöteten Peiniger Lynns.
„Das hast du gut gemacht, Declaire."
„Aber ..." Declaire zögerte. Sie konnte nicht glauben, dass die Wut so überhand nehmen konnte und sie dazu gebracht hatte, Koutha zu töten. „Was habe ich getan?"
Sunhào sah ihr in die Augen und ein freundliches Lächeln legte sich auf ihre Lefzen. „Schließe einfach deine Augen."
Kapitel 02: Tür
Declaire öffnete die Augen und bemerkte, dass sie wieder allein war. Das Blut auf ihrem Fell war verschwunden, nur der aufgeregte Herzschlag erinnerte sie noch an die schreckliche Tat, die sie begangen hatte.
Sie nahm einen tiefen Atemzug und versuchte die geschehenen Bilder zu verarbeiten. „Was hat das alles zu bedeuten? Und wo ist Lynn?", fragte sie sich.
Declaire warf einen Blick um sich und bemerkte, dass sie an einem Ort war, den sie bereits kannte. „Der Raum mit den vielen Türen."
Sie stand wieder vor dem riesigen Spiegel, der mit funkelnden Augen urteilend auf die Pantherin starrte und die spitzen Zähne bleckte.
Declaire konnte nicht anders, als Ehrfurcht vor diesem Spiegel zu empfinden. Sie wandte sich von dem Spiegel ab und ließ ihren Blick schweifen. Die Türen waren noch immer im Kreis um den Spiegel aufgebaut, doch etwas war anders.
Declaire schritt über den Boden und blieb vor der Tür stehen, die sie bei ihrem ersten Besuch dieses Ortes passiert hatte. Risse zogen sich durch die rostige Metalltür und sie war gänzlich verbeult und eingeschlagen. Lediglich das rote Zeichen war noch deutlich auf der Tür zu erkennen, das nun um so strahlender im Kontrast zur zertrümmerten Tür erschien.
Declaire griff an den Türgriff und versuchte, die Tür zu öffnen. Sie rüttelte an der Tür, doch diese bewegte sich keinen Zentimeter. Schließlich trat sie gegen das Metall und ließ von der Tür ab. „Die ist zu!"
Sie blickte an der Tür hinauf und hielt sich wieder die vergangenen Bilder vor Augen. Diese Tür hatte sie in den Arbeitskeller von Koutha Barjun geführt, dem Ehemann von Lynn Barjun. „Aber ist er wirklich gestorben?", fragte Declaire sich. „Das kommt mir alles so unwirklich vor. Was ist denn nun tatsächlich real?"
Declaire strich sich durch die Haare und überlegte. So sehr sie es auch versuchte, sie konnte das schmerzverzerrte Gesicht Lynns nicht aus ihrem Kopf verbannen. Zwar hatte sie Lynn rächen können, doch war es offenbar zu spät gewesen. „Oh Lynn", murmelte sie. „Wo bist du nur?"
Ihre Stimme brach und wurde nur noch zu einem schwachen Wispern. „Es tut mir leid, dass ich dich nicht beschützen konnte."
Tränen füllten ihre Augen und sie hielt die Arme um ihren Körper, während sie in die tiefe Schwärze blickte. „Wo du auch bist, Lynn, ich hoffe, dir geht es gut. Ich werde dich finden. Ich werde immer bei dir sein, das habe ich dir versprochen."
Declaire schluckte und wandte der Tür den Rücken zu. „Selbst wenn ich Koutha zehnmal dafür töten müsste."
Sie erschrak sich selbst vor der Kälte in ihrer Stimme. „Was rede ich da eigentlich?"
Declaire schüttelte den Kopf und strich sich die Haare zurecht. Sie blickte auf die vier verbliebenen Türen, die noch passierbar waren. „Sollte sich etwa hinter jeder dieser Türen ein Ort der Finsternis verbergen, wie hinter dieser?"
Sie fuhrt mit der Kralle an der zertrümmerten Tür entlang und ein kaltes Prickeln durchfuhr ihr Fell. Diese Vorstellung war zu düster, um real sein zu können. Declaire nahm ihren Mut zusammen und ging zur nächsten Tür, die sie sich als Ziel auserkoren hatte.
Mit geballten Fäusten stand sie vor der Tür, die bedrohlich vor ihr aufragte. Knorrige Äste durchzogen die Tür, die sich hier und da spalteten und zu weiteren Verzweigungen führten. Die Tür sah aus, als wäre sie aus einer Baumkrone gefertigt und erinnerte Declaire an Wälder. Die Äste fühlten sich kalt und tot an, als hätte nie einen Hauch Leben in ihnen gesteckt.
Declaire zuckte zurück. Sie hatte keine Vorstellung, was sich hinter dieser Tür verbarg, die von dunklen Ästen umschlungen wurde.
Ihre Hand fuhr an den kalten Ästen entlang bis sie schließlich zu einer hervorstehenden Verzweigung gelangte, die offenbar als Türklinke diente. Zitternd umfasste die Hand die Klinke und Declaire begann zu zögern. Was hoffte sie vorzufinden? Und was war, wenn sie nicht das vorfand, was sie zu finden hoffte? Was konnte sich hier befinden?
„ffne die Tür", hauchte wieder eine Stimme in Declaires Ohr und ihre Hand bewegte sich wie von selbst. Ohne, dass sie sich darüber bewusst war, öffnete Declaire die Tür und ein violettes Strahlen blendete sie. Ein Sog zog sie durch die Tür und sie verschwand in dem unnatürlichen Strahlen.
Die Tür schloss sich wieder und Declaire war verschwunden.
Ein kühler Hauch umwehte Declaire und ließ ihr weites Kleid flattern. Der entfernte Schrei einer Eule drang an ihre Ohren und der Duft modrigen Waldbodens umspielte ihre Nase. Als sie durch den Ort schritt, hörte sie das schlürfende Geräusch des matschigen Bodens, in den ihre Füße sanken. Angeekelt stolperte sie vor und fand eine trockenere Stelle, an der sie nicht versank.
Declaire sah um sich. Sie konnte erkennen, dass sie sich in einem Wald befand. Dürre Bäume ragten in die Höhe, die keine Blätter mehr trugen. Das Holz der Bäume wirkte schwarz und morsch, als ob dieser Wald schon lange ausgestorben war. Ein dichter Nebel lag um den Wald und hüllte ihn in einen violetten Schleier, durch den Declaire die Ferne nicht mehr erkennen konnte. Sie konnte lediglich sehen, dass der Wald immer weiter zu gehen schien. Kein Ende kam in Sicht.
Declaire blickte sich um und versuchte die Tür zu entdecken, aus der sie gekommen war, doch diese schien wie vom Erdboden verschluckt. „Verdammt. Wie komm ich denn jetzt wieder zurück?"
Sie tastete die Bäume in ihrer Umgebung ab. Ihre Hand strich an dem toten Holz entlang und ihre Nase zuckte vor Ekel, doch eine Tür fand sie nicht. „Es muss doch hier irgendwo gewesen sein!"
Sie sah sich um, doch wohin sie auch blickte, alles sah gleich aus. Überall die gleichen dürren Bäume, die sich gen Himmel streckten, der durch die Nebeldecke nur noch schemenhaft zu erkennen war.
Declaire wurde klar, dass sie nicht hier warten konnte und sich durch den Wald arbeiten musste, um von hier fort zu kommen. Sie schritt voran und versank wieder ein Stück im Morast. Declaire zog ihren Fuß aus dem Matsch und machte einen großen Bogen um die feuchten Stellen im Waldboden. „Wenn das so weitergeht, versinke ich noch im Moor. Ich kann mir rühmlichere Tode vorstellen", seufzte sie.
Sie schritt an den Bäumen vorbei und kämpfte sich durch den dichten Nebel, der ihre Sicht verschleierte. Der Ort begann sie an einen Auftrag an ihrer Arbeit zu erinnern, wo sie in einem ebenfalls düsteren Wald posiert hatte. Damals hatte sie die Atmosphäre genossen und hatte sich für die Bilder völlig in das Umfeld gelebt. Doch nun, völlig allein durch diesen nebelverhangenen Wald zu irren, war alles andere als angenehm.
„Selbst für mich ist das eine Spur zu düster", murmelte sie und riss ihr Kleid los, das sich in einem Ast verfangen hatte.
Wieder hörte sie den entfernten Ruf einer Eule und ihr wurde klar: „Dieser Wald ist nicht tot. Hier gibt es Lebewesen! Ich muss sie finden!"
Sie spitzte die Ohren und versuchte dem Ruf des Tieres zu folgen, doch sie hatte das Gefühl, dass sich das Geräusch immer weiter von ihr entfernte.
Als sie an einem besonders knorrigen Baum anhielt, lehnte sie sich gegen ihn und verschnaufte. Declaire blickte um sich und ihr wurde bewusst, dass es hier nicht anders aussah, als an ihrem Ausgangspunkt. „Wo bin ich hier denn nur gelandet?! Ach, warum muss so was immer mir passieren?!"
Sie ballte die Fäuste und schlug gegen den Baum, gegen den sie lehnte. Die Vibration übertrug sich auf den Baum und plötzlich hörte sie ein paar Krähen, die von der Baumkrone aus davonflogen.
Declaire sah den Vögeln nach, die alle in verschiedene Richtungen wegflogen. Sie dachte einen Augenblick darüber nach, ob sie ihnen folgen sollte, doch was würde das bringen? Wo sollten die Krähen sie hinführen?
Sie seufzte resigniert. Wie sollte sie diesem endlosen Ort entfliehen können?
Plötzlich vernahm sie ein Rascheln. Declaires Sinne waren geweckt. Sie konnte es mit jeder Faser ihres Körpers spüren: Irgendjemand war hier im Wald!
Declaire vernahm ein sanftes Hauchen an ihrem Nacken. Mit gesträubtem Fell wirbelte sie herum und sah in die bernsteinfarbenen Augen eines Dachses.
„Guten Abend, junge Dame", begrüßte der Yokai sie höflich.
Perplex starrte Declaire ihn an. „Inspektor Haver", murmelte sie, während sie sein Erscheinungsbild musterte. Er trug einen ordentlich gebügelten Frack mit goldenen Schnallen.
Es war bereits einige Zeit her, dass sie Mister Haver zuletzt gesehen hatte, doch erkannte sie sein Gesicht sofort wieder. „Und auch die Brille ist gleich geblieben", überlegte sie. Unwillkürlich musste sie daran denken, dass dieser Inspektor an der Entführung Lynns beteiligt war. „Er ist mit schuld daran, dass man ihr das antun konnte", behielt sie sich im Hinterkopf. „Oder war das nur ein Traum gewesen? Eine Vision? Ich weiß nicht mehr, was real ist."
Der Dachs rückte seine Brille zurecht. „Liege ich richtig in der Annahme, dass Sie jemanden ausfindig machen wollen?"
„Oh ja!" Declaire sah den Dachs an, wissend, dass dieser genau im Bilde darüber war, wen sie suchte.
„Sie können ihre Suche beenden", tonte die tiefe Stimme.
„Was soll das bedeuten?", warf Declaire ihm an den Kopf.
Der Dachs zog die Lefzen zu einem Schmunzeln. „Nun ja, wie soll ich das erklären?"
„Lynn ist tot", warf eine fremde Stimme ein.
Declaire fuhr herum und entdeckte den Ursprung der Stimme hinter einem Baum.
Ein blonder Fuchs mit breitem Grinsen trat aus dem Schatten und stemmte die Fäuste in die Hüfte.
„Marek Laviora!" Mister Haver sah den Fuchs missbilligend an. „Du hast mir den Höhepunkt versaut."
„Hab ich das? Igitt!"
„Was soll das heißen, Lynn ist tot?" Declaire funkelte den jungen Mann an und konnte seinen Worten keinen Glauben schenken.
Marek strich sich lässig durch die blonden Haare und warf ihr einen kecken Blick aus rehbraunen Augen zu. Offenbar gefiel ihm, was er sah. „Du hast mich schon verstanden, Süße."
Declaire wechselte den Blick zwischen den beiden Rüden hin und her. „Lüge! Lynn kann noch nicht tot sein!"
Belustigt spielte Marek am Kragen seines weißen Rüschenhemds herum und erwiderte: „Ich würde es doch nicht wagen, so eine hübsche Braut wie dich anzulügen."
Declaires Wangen wurden rot, jedoch aus Zorn als aus Verlegenheit. „Schnauze! Was bildest du dir eigentlich ein, wer du bist?"
Noch bevor der Satz ausgesprochen war, erinnerte sich Declaire an die unbekannte vierte Person, die mit Lynn im Schatten des dunklen Flures verschwunden war. „Das war er", bemerkte sie und plötzlich kam ihr sein Gesicht äußerst vertraut vor. „Als hätte ich ihn schon einmal irgendwo gesehen."
Äußerst empört sah Marek sie an. „Oh, sie kennt mich nicht! Joe, kannst du das glauben? Was ist hier los? Sonst blende ich doch nie ein. Oh, warum nur?"
Declaire schüttelte verwirrt den Kopf. „Wer zur Hölle bist du?"
„Wer ich bin? Nun enttäuscht du mich aber, Puppe. Marek Laviora? Iron Fox? Nie gehört? Hörst du keine Musik?"
Mister Haver zuckte mit den Schultern. „Lesen Sie keine Zeitung?"
„Hast du überhaupt ein Bügeleisen?"
„Was?" Declaire konnte den beiden nicht folgen.
Mister Haver legte die Pfote auf Mareks Schulter und erklärte: „Machen Sie sich nichts daraus. Er denkt, er wäre weltberühmt, aber eigentlich ist er ein Niemand."
„Was willst du damit andeuten, du verrotteter Sack Flöhe?!", keifte Marek ihn an.
„Ich verbitte mir diesen Umgangston."
„Hey!", meldete sich Declaire wieder dazwischen. „Wo ist Lynn?"
Marek seufzte resigniert. „Noch toter als jetzt kann sie nicht mehr werden. Koutha hatte ihr ja schon übel zugesetzt. Wir haben ihr den Gnadenstoß gegeben. Ist leider nicht mehr viel für dich übrig." Er grinste, doch dann zögerte er. „Wobei, nicht ganz."
Marek griff sich in die Hosentasche, während Mister Haver ihn erstaunt ansah. „Du hast es doch nicht tatsächlich aufgehoben, oder?" Der Dachs musste lachen. „Das ist wirklich ... bizarr."
Marek sah mit selbstgefälliger Miene zu Declaire und berichtete: „Lynn hat gefleht, dass sie dich sehen will. Und ich kann so einer hübschen Braut doch die letzte Bitte nicht ausschlagen."
Verwirrt beobachtete Declaire, wie Marek etwas aus seiner Tasche holte und ihr den Arm entgegen streckte. Er öffnete die Hand, auf der eine weiße Kugel sichtbar wurde. Aus der Ferne konnte Declaire nicht viel erkennen, doch ihr fiel auf, dass die Kugel von zarten roten Linien durchzogen wurde. „Sieht fast so aus ... wie Adern."
Declaire verzog die Augenbrauen. „Was ...?" Weiter kam sie nicht. Ihr blieben die Worte im Hals stecken, als Marek die Kugel drehte und eine geweitete Pupille sichtbar wurde, die von einem grünen Ring umgeben wurde.
Der Augapfel gehörte unverkennbar zu Lynn.
„Ihr kranken Schweine." Declaires Stimme war nicht mehr als ein heiseres Flüstern.
Marek lachte auf. „Lynn hat wohl ein Auge auf dich geworfen."
„Warte, ich nehm's wieder weg", grunzte der Dachs, der sich das Lachen kaum verkneifen konnte.
Declaire blieb einen Moment stumm stehen. Sie ballte die Fäuste und ihre Krallen fuhren aus und wieder ein. Ihr Fell prickelte, als würde es von Blitzen durchzuckt werden. Die Pupillen verengten sich zu schmalen Schlitzen, während ihr Blick die beiden durchbohrte. „Dafür werdet ihr bluten!", brüllte sie und stürmte los.
Marek bemerkte Declaire, stopfte sich das Auge wieder in die Hosentasche und streckte die geöffnete Hand zu ihr aus.
Wie aus dem Nichts schoss eine Eisenkette aus dem Waldboden, die sich um Declaires Füße wickelte.
Die Pantherin stolperte, doch ehe sie fallen konnte, schlangen sich weitere Ketten um ihren Oberkörper und hielten sie aufrecht. Declaire stöhnte auf, als sie das kalte Eisen spürte, das ihr die Luft abschnürte. Und wieder war sie gefangen und konnte sich nicht befreien. Declaire hasste das Gefühl der Hilflosigkeit.
Ihr Blick folgte dem Ursprung der Ketten, doch diese verschwanden im Nebel des Waldes. Sie sah Marek an, der beide Arme zu ihr gestreckt hielt und damit offenbar die Eisenketten kontrollierte.
Mister Haver trat neben Marek und sah missbilligend auf die Pantherin.
Der Hauch einer Stimme drang an Declaires Ohren: „Willst du sie bestrafen?"
Die Pantherin sah hinter sich und entdeckte die sanfte Gestalt Sunhàos. Der Anblick der Füchsin linderte Declaires Wut für einen Herzschlag lang, doch fiel ihr sofort wieder Lynns Ermordung ein. „Die Schweine müssen für das, was sie ihr angetan haben, bestraft werden."
Sunhào nickte ihr zu. „Ja, da hast du recht. Bestrafe sie."
Declaire blinzelte ihr verwundert zu, als die Füchsin nur neben ihr stehen blieb und nichts tat. „Willst du mich nicht befreien? Ich schaffe das nicht allein."
„Du schaffst das auch ohne meine Hilfe." Sunhào trat einen Schritt von ihr weg und ließ ihre Hand über eine der durch den Wald gespannten Ketten streichen. „Du bist mächtiger, als du es dir vorstellen kannst. Zeig es uns."
Declaire sah wieder zu den beiden Rüden, die sich nicht von der Stelle gerührt hatten. „Ob sie Sunhào nicht sehen können?"
Sie strengte sich an und drückte die Arme gegen das Eisen. „Es geht nicht."
Sunhào sah sie ernst an. „Löse dich von den Gefühlen, die dich zurückhalten, in die Schlacht zu ziehen. Deine Gefühle lähmen dich, machen dich schwach und errichten eine Blockade, die dich umgibt. Befreie dich davon und lass uns deine Stärke spüren."
Declaire war verwundert über die Strenge in der Stimme der Füchsin, doch verinnerlichte sie die Worte und versuchte zu verstehen, was Sunhào von ihr wollte. „Na gut. Ziehen wir in den Krieg!"
Declaire schloss die Augen und löste die Anspannung. Sie konnte spüren, wie die Ketten sie umschlossen und sie enger zusammendrückte, als es die Korsage je hätte schaffen können.
Die Pantherin ließ sich fallen, entspannte ihren Geist und lauschte einen Augenblick lang den Geräuschen ihrer Umgebung. Weder Mister Haver, noch Marek waren dort, lediglich ein Wald, der sie in seine Aura zog. Sie konnte den leicht feuchten Nebel spüren, fühlte den matschigen Boden zwischen ihren Zehen und genoss den frischen Wind im Gesicht.
Plötzlich riss Declaire ihre Augen wieder auf, die in einem grellen Licht aufglühten. Das kalte Grau strahlte durch den Nebel, das nun auch die Aufmerksamkeit der beiden Rüden auf sich zog. Doch ehe sie verstanden, was vor sich ging, ließ Declaire einen Urschrei erschallen und die Ketten zersprangen in kleinste Teile. Eine Druckwelle breitete sich um die Pantherin aus, die die Kettenglieder fortschleuderten.
Declaires stechender Blick traf Marek.
Paralysiert starrte der Fuchs sie an. Er sah den gewaltigen Zorn in ihrem blitzenden Fell und wusste, dass es jetzt gefährlich wurde.
Declaire stürmte auf den Fuchs zu. Sie flog geradezu über den Waldboden und ließ ihre Krallen ausfahren.
Marek wollte fliehen, doch Declaire hatte ein Tempo angenommen, mit dem er nicht mithalten konnte.
Declaire sprang und riss den Fuchs mit sich zu Boden.
Hart landete Marek auf dem Rücken, die Knie der Pantherin stachen in seinen Bauch. Mit vor Schock weit aufgerissenen Augen sah Marek sie an.
Mister Haver, der ein paar Schritte zurückgewichen war, starrte geistesabwesend auf die Szene. Diese Pantherin war keineswegs schwach, sie war ein wildes Monster geworden!
Declaire bäumte sich auf und streckte Hand vor. Rasiermesserscharfe Krallen blitzten auf.
Marek bemerkte, dass die Krallen eine ungewöhnliche Länge angenommen hatten und in der Dunkelheit des Waldes wie Sichelmonde leuchteten.
Daclaire ließ die Krallen durch die Luft sausen. Nur allzu leicht konnte sie den kläglichen Versuch einer Konter abwehren. Eine magentafarbene Spur des Lichts zog sich durch Luft, als sie die Krallen wirbeln lies.
Marek stöhnte auf. Die Kraft entwich seinem Körper, als er spürte, dass er unterlegen war. Er hatte versucht, sich mit den Armen zu schützen, doch durch diese zogen sich tiefe Kratzer, aus denen Blut quoll. Kraftlos fielen die Arme zur Seite und pochten vor Schmerz.
Marek sah keuchend auf. Declaire hielt mit ihrem Körpergewicht Mareks Beine fest und so hatte dieser keine Chance mehr, sich zu wehren.
Declaire grinste und ließ erneut die Krallen blitzen.
Die Pupillen des Fuchses verengten sich, als die Krallen seine Haut zerrissen. Die Pranke flog durch die Luft und zog einige Blutstropfen hinter ihr her. Eine tiefe Kluft verlief nun über Mareks Hals, der lautstark nach Luft röchelte.
Declaire nahm ihre zweite Hand zur Hilfe und ließ sie abwechselnd auf den Fuchs niederfahren.
Immer tiefer bohrte sich die Schlucht in Mareks Hals, dessen Augen bereits glasig wurden und das Röcheln nur noch unregelmäßiger zu hören war, bis es schließlich ganz verstummt war.
Als Declaire wieder aufstand, bemerkte sie, dass sie den Kopf Mareks fast gänzlich vom Rumpf abgetrennt hatte. Noch war jedoch nicht die Zeit, Reue zu empfinden. Das Feuer brannte weiter in ihren Augen und sie fuhr herum. Sie entdeckte den Dachs, der sich zitternd an einen Baum geklammert hatte.
Lässig strich sich die Pantherin eine Strähne aus dem Gesicht und streckte die Hand zu Mister Haver aus. Sie zeigte nur mit zwei Fingern auf den Dachs und schrie auf. Die Spitzen ihrer Krallen glühten auf und plötzlich entlud sich ein greller Strahl, der im stetigen Fluss durch die Luft schoss. Der Strahl traf den Dachs, der vor Schmerz aufschrie. Lange hielt das Geräusch nicht, denn schon trat der Strahl wieder aus dem Körper des Dachses aus und verschwand in der Dunkelheit des Waldes.
Plötzlich kehrte die natürliche Farbe in Declaires Augen zurück, der irre Ausdruck verschwand und sie brach den Strahl ab.
Mister Haver fiel zu Boden, ein glatter Durchschuss war durch seine Brust gegangen. Die Wunde dampfte von dem verbrannten Fleisch und verbreitete einen unangenehmen Geruch.
„Er ist tot. Und Marek auch", stellte Declaire fest und starrte auf ihre Hände. „War das wirklich ich?"
„Das hast du doch gut gemacht. Ich wusste, dass du es kannst."
Die sanfte Stimme holte Declaire aus ihren Gedanken. Sie sah Sunhào an, doch selbst dieser traumhafte Anblick linderten Declaires Zweifel nicht. „Was war das?"
„Was meinst du?"
Declaire sah sie streng an. „Diese Kräfte. Was ist das? So etwas konnte ich doch vorher nicht. Ich verstehe das nicht. Und Marek und Mister Haver ..."
Sunhào trat an Declaires Seite und legte die Hand auf ihre Schulter. „Sie haben ihre gerechte Strafe erhalten."
Declaire schüttelte den Kopf. „Aber ... ich habe sie ermordet."
„Sie haben Lynn getötet!"
Declaire war erstaunt, dass die sonst so sanfte Stimme Sunhàos solch einen düsteren Unterton bekommen konnte. „Dennoch. Es ist falsch!"
Sunhào wich einen Schritt zurück und plötzlich wirkte ihr Gesicht wie verzerrt, als ob sie von Declaires Aussage zutiefst geschockt wäre.
„Was ist los?" Die Pantherin sah sich um und ihr fiel auf, dass die Umgebung zu Flimmern begann. Sie rieb sich den Kopf. „War wohl etwas zu viel für mich", bemerkte sie, doch hatte sie nicht das Gefühl, müde zu sein.
Das Flimmern wurde stärker und plötzlich verschwand einer der Bäume im Hintergrund. Das Holz löste sich in Nichts auf und war einfach verschwunden.
Declaire rieb sich die Augen, doch diese trogen nicht, denn weitere Bäume verschwanden ebenfalls. „Hab ich irgendetwas Falsches eingenommen?", überlegte sie.
Alles um sie herum verschwamm, wirkte seltsam verzerrt und nicht mehr real.
Declaire verstand nicht, was vor sich ging und sah zu Sunhào, die ebenso wie der Wald flimmerte. Der Körper Sunhàos wechselte Farbe und Größe, während sie immer mehr zu einer undefinierbaren Form verschwamm.
„Fehler ...", stotterte Sunhào, deren Stimme plötzlich sehr abgehackt und tief klang.
Schließlich färbte sich alles um Declaire komplett schwarz. Der Wald und Sunhào waren mit einem Wimpernschlag verschwunden und Declaire war allein.
„Was war das?", fragte sie sich. Die Pantherin zwickte sich in die Seite, um sicherzugehen, dass sie nicht schlief. „Was ist hier denn bloß los? Lynn! Sunhào!"
Niemand antwortete ihr.
Nachdem sie einige Sekunden in der tiefen Schwärze ausharrte, färbte sich der Boden unter ihren Füßen plötzlich langsam in ein glänzendes Violett. Ein paar verschwommene Gebilde erschienen um ihren Körper, die nach und nach immer deutlicher wurden.
Declaire rieb sich die Augen und als sie sich erneut umschaute, stellte sie fest: „Ich bin wieder im Raum mit den Türen."
Kapitel 03: Chénmò
„System stabil."
Declaire blickte sich um. „Wer hat das gesagt?"
Niemand antwortete ihr.
Die Pantherin meinte, dass die Stimme wie Sunhào klang. „Was ist dort im Wald passiert? Das war wohl der heftigste Trip, auf dem ich je war."
Sie sah sich um. „Und wohl auch der Erste."
Declaire fand sich selbst im riesigen Spiegel mit geweitetem Maul wieder. „Und er ist auch noch nicht vorbei, so wie es aussieht."
Sie betrachtete sich selbst im Spiegel und fand, dass sie unverändert aussah. Nicht einmal Blutspuren waren zu sehen. Declaire hob verwundert die Augenbrauen. Sie hielt sich die Ermordung Kouthas, Mareks und Mister Havers noch einmal bildlich vor Augen und war sich sicher, dass sie dabei Blut hätte abbekommen müssen.
„Irgendetwas stimmt hier ganz gewaltig nicht."
Sie ließ von dem Spiegel ab und betrachtete die fünf Türen. Nun waren es bereits drei Türen, die demoliert aussahen. Declaire trat über den violetten Steinboden und betrachtete die Türen. „Drei Türen und drei Opfer. Zwei Türen bleiben noch übrig", murmelte sie. „Das heißt, dass das Morden noch kein Ende gefunden hat."
Sie blieb vor einer Tür stehen, die noch heil war. Diese Tür war gänzlich aus Stein gehauen und machte einen sehr antiken Eindruck. „Was erwartet mich hinter dieser Tür? Und was erwartet mich hinter der anderen Tür? Bin ich stark genug dafür?"
Zweifel schnürten Declaires Kehle zu und die Angst packte sie am Kragen. „Ich will nicht mehr."
Die Bilder des Blutes, des Todes und des Verderbens schossen ihr durch den Kopf, als sie den Türknauf ergriff. Würde es hinter dieser Tür genauso gewalttätig aussehen, wie hinter den vergangenen?
Doch was blieb ihr übrig? Sie musste vorwärts gehen und durfte nicht stehenbleiben. Declaire schluckte und befreite sich von der Angst, die ihren Körper zittern lies. „Ich muss mir einfach vorstellen, dass etwas Gutes passieren wird. Ich muss positive Gedanken haben!"
Doch als sie versuchte, glückliche Erinnerungen hervorzurufen, bemerkte sie, dass sie dies nicht konnte. Da waren keine positive Gefühle, die sie empfinden konnte. Da war nicht mehr als reine Leere.
Declaire erschrak und zuckte zurück.
Warum war da nichts? Warum waren da keine Erinnerungen?
Da war nur eine taube Finsternis, die rein gar nichts hervorrief.
Declaire schloss die Augen, rieb sich den Schweiß von der Stirn und griff wieder nach dem Türknauf. Nun war nicht die Zeit, in Erinnerungen zu schwelgen, sie musste voran kommen und das schien nur möglich zu sein, wenn sie auch die letzten Türen passierte. Die letzten Türen ihrer persönlichen Hölle, in der sie sich ihren Dämonen stellen musste.
Ehe sie sich darüber bewusst war, schloss sich die Tür hinter ihr und sie war an einem fremden Ort.
Declaire sah hinter sich, doch wie sie es erwartete, war hier keine Tür mehr zu sehen, als wäre sie urplötzlich verschluckt worden. Hier ragte lediglich ein großer Felsen in die Luft, der mehr als doppelt so groß wie Declaire selbst war.
Die Pantherin trat an das Gestein und legte die Hand auf den Felsen. Kalt und rau, doch irgendwie verströmte das Gestein auch eine unheimliche Kraft, die Declaire zurückzucken lies.
Einen Blick hinter den Felsen verriet Declaire, dass sie sich wieder in einem Wald befand, der diesmal jedoch weitaus lebendiger aussah. Tiefes Grün breitete sich vor ihren Augen aus, das von einem sanften Schleier des Nebels umhüllt war.
Declaire drehte sich um und bemerkte weitere Felsen, die auf dieser Lichtung aufgereiht waren. Sie waren nicht sehr breit, doch strebten sie in die Höhe, sodass Declaire sich fragte, wie sie aufrecht stehen bleiben konnten. „Sind das Menhire?"
Sie ging ein paar Schritte und bemerkte, dass die Steine ungewöhnlich angeordnet waren. „Das ist ein Steinkreis", fiel ihr auf.
Sie trat in die Mitte des Steinkreises, der aus einer geebneten Grasfläche bestand. Die Felsen umkreisten sie, während am Horizont die Sonne unterging und ihre letzten Lichtstrahlen auf die Lichtung schickte.
Declaire begann sich zu fragen, welchen Nutzen dieser Steinkreis hatte und warum sie ausgerechnet hier gelandet war. Sie schloss die Augen, spielte mit ihrem Haar und dachte nach: „Dieser dunkle Wald, in dem ich war ... In so einem bin ich schon früher gewesen für ein paar Bilder. Den Keller von Koutha kenne ich auch. Das war der Arbeitskeller bei Lynn zu Hause, in dem sich Koutha die meiste Zeit aufgehalten hatte. Aber was hat es mit diesem Steinkreis auf sich?"
So sehr sie auch überlegte, ihr fiel keine passende Lösung ein, was dieser Ort mit ihr zu tun haben mochte. Sie konnte sich nicht erinnern, je mit einem solch mysteriösen Ort zu tun gehabt zu haben. „Die Steine sind jedoch wie diese Türen angeordnet", bemerkte sie und sah um sich.
Plötzlich hielt sie inne. Mit starrem Blick sah sie auf einen der Steine, vor dem etwas leuchtete. Declaire konnte nicht erkennen, was es war, doch da war ein kleines bläuliches Flackern.
Ihr Interesse war geweckt und sie trat näher. Ein kleines Flackern, wie von einer Kerze, leuchtete vor dem Stein. Doch war es ein Feuer? Es war ungewöhnlich blau und schwebte einfach so in der Luft.
Declaire kniff die Augen zusammen. Sie bildete sich ein, in der Erscheinung ein lebendiges Wesen zu erkennen, das dort in der Luft schwebte. Als sie näher kam und die Hand ausstreckte, verschwand das Licht mit einem heulenden Geräusch.
Verwirrt starrte Declaire auf den Fleck, an dem zuvor noch das Lichtwesen war, doch nun deutete nichts mehr darauf hin, dass hier etwas gewesen war.
Das Geräusch von sich entzündeten Flammen lenkte Declaires Aufmerksamkeit auf sich und sie fuhr herum.
Als sie in die Mitte des Steinkreises blickte, durchzuckte sie ein kalter Schock.
Da stand jemand.
Und die Person wurde von einem Zirkel aus brennenden Kerzen umringt.
„Die war doch vorher nicht da!" Declaire sah das kleine Mädchen an und bemerkte auf den zweiten Blick, um wen es sich handelte. „Das ist doch Lynns Tochter. Helen!"
Pechschwarzes Fell hüllte die kleine Häsin ein, deren violette Augen wie frisch geschliffene Edelsteine leuchteten. Ein prächtiges Kleid schmückte Helen.
Declaire bemerkte, dass ihr Kleid fast genauso aussah, wie das Brautkleid, das Lynn getragen hatte. Es war ebenso weit und trug die Reinheit weißer Farbe in sich, jedoch befanden sich an Helens Kleid einige rote Akzente, die wie Blutspritzer auf der jungfräulichen Reinheit wirkten.
Helen schenkte der Pantherin keine Aufmerksamkeit und widmete sich wieder etwas anderem zu. Sie hielt etwas in der Hand, das sie in die Mitte des Zirkels platzierte.
Declaire versuchte, an Helen vorbeizuspähen, um das Objekt zu sehen, doch sie erkannte es nicht.
Als Helen begann, ein paar für Declaire unverständliche Worte zu murmeln, fiel ihr auf, dass die Sonne hinter dem Horizont verschwand und sich eine Dunkelheit über den Steinkreis legte, die ihr sehr unnatürlich vorkam. In Sekundenschnelle war es dunkel geworden und nur der Schein der Kerzen erhellte die Lichtung.
Declaire legte die Arme um sich und fröstelte. Die plötzlich eingekehrte Nacht schien Kälte mit sich gebracht zu haben.
Helen griff nach einem anderen Gegenstand und Declaire konnte im einfallenden Kerzenschein erkennen, dass es sich um ein Messer handelte.
„Oh man, was hat die Göre bloß vor?", fragte sich Declaire und bereitete sich mental darauf vor, von dem kleinen Mädchen angegriffen zu werden.
Doch statt der Pantherin eines Blickes zu würdigen, rammte sich Helen das Messer in den Arm und führte es daran entlang durch die Haut. Das Blut quoll aus der Wunde und Helen träufelte dieses behutsam auf das Objekt in der Mitte des Steinkreises, während sie weitere unverständliche Sätze murmelte.
Declaire beobachtete die Häsin verwirrt. „Was tut sie da? Will sie sich umbringen?"
Plötzlich drang eine Stimme an Declaires Ohren: „Sie versucht, zu Lynn Kontakt aufzunehmen."
Declaire fuhr herum. „Sunhào? Wo bist du?" Sie konnte die hübsche Füchsin nicht sehen, lediglich ihre Stimme war hier.
„Sie stört Lynn in ihrer letzten Ruhe. Willst du das zulassen?!"
Declaire schüttelte verwirrt den Kopf. „Was meinst du?"
Keine Antwort.
Die Pantherin bemerkte, dass Helen die Arme ausgebreitet hatte. Ihr Kleid wirbelte im Wind und Declaire meinte keine Farbe mehr in den Augen der Häsin zu sehen, nur das reine Weiß leuchtete dort.
Declaire sah auf das Objekt, das nun für sie sichtbar war. Ein mit Blut befleckter, rundlicher Gegenstand lag dort.
Declaire wusste nicht, was das sein konnte, doch plötzlich begann das Objekt zu pulsieren. Es pochte im gleichmäßigen Rhythmus, als wäre es ein ... „Herz."
Die Kerzen erloschen und im selben Augenblick erklang ein lauter Schrei, der Declaires Fell zu Berge stehen ließ. Das Kreischen durchfuhr ihren gesamten Körper, schmerzte in jeder Faser und dröhnte laut in ihrem Kopf. Declaire wusste sofort, das war Lynns Schrei.
„Sie leidet, weil du nicht eingreifst", drang wieder Sunhàos Stimme an ihr Ohr.
Declaires Augen färbten sich in glühendes Silber. In dem Schrei spürte sie Lynns Schmerz und ihre Verzweiflung. „Wie kannst du ihr das nur antun?", hauchte Declaire mit gebrochener Stimme.
Die Pantherin hob den Kopf und fixierte die junge Häsin. „Lass sie in Ruhe!"
Helen, deren Füße kaum noch den Boden berührten und deren Kleid durch die Luft wirbelte, sah zu der Pantherin herab. „Declaire", sagte sie mit verzerrt tiefer Stimme. „Du bist schuld an Mamas Tod!"
„Lüge!", fauchte Declaire ihr entgegen.
„Ich verachte dich. Ich hasse dich!"
„Schnauze!"
Helens Haare wirkten wie elektrisch aufgeladen, als einzelne Strähnen begannen, in die Luft zu fliegen. Ihr Gesicht war vor Wut verzerrt, doch auch Declaire zeigte keine freundlichere Miene.
Declaire preschte los und warf sich gegen Helen.
Keuchend wurde die Häsin aus der Luft gerissen und auf den Boden geschleudert.
Declaire fegte die Kerzen fort und betrachtete das mit Blut befleckte Objekt. „Es ist tatsächlich ein Herz. Lynns Herz."
Sie wusste nicht, was sie tun sollte, doch viel Zeit blieb Declaire nicht, denn schon hatte sich Helen wieder aufgerappelt.
„Lass die Finger von Mama!", brüllte sie und streckte die geöffnete Hand zu ihr aus. Eine Kugel blauen Feuers bildete sich in ihrer Handfläche und schoss auf die Pantherin zu.
Declaire bemerkte den Angriff rechtzeitig und wich zur Seite. Die Feuerkugel verfehlte sie nur knapp und sengte ihr Kleid an, anschließend prallte sie auf einen der Felsen, wo sie heulend erlosch.
Declaire blieb keine Atempause. Weitere Feuerbälle flogen auf sie zu und brachten sie in Bedrängnis.
Helen schrie mit jedem Feuerball auf, den sie abfeuerte.
Declaires Wendigkeit wurde auf die Probe gestellt, als immer mehr Geschosse auf sie zuflogen.
Helen keuchte und ließ die Arme sinken. Sie hatte ihre gesamte Kraft eingesetzt und war nun völlig ausgelaugt. Als sie den Kopf wieder hob, erblickte sie Declaire. Das Kleid der Pantherin war an vielen Stellen angebrannt, ebenso das schwarze Fell. Die Wiese war kahl und es brannten noch die blauen Flammen, die Declaires Beine umgaben. Die grauen Pantheraugen stachen aus dem feurigen Bild der Zerstörung heraus.
„Bist du jetzt fertig?", fragte Declaire, deren Stimme nun viel ernster und tiefer klang. Mit festen Schritten stapfte sie auf die Häsin zu.
Helen wich erschrocken zurück. „Wie konntest du dem Feuer widerstehen? Du sollst brennen!"
Erneut hob sie die Arme und entfesselte einen Strahl aus Funken sprühenden Flammen. Das blaue Feuer zehrte an Helens Reserven, doch mühsam hielt sie den Strahl aufrecht.
Geschickt wich Declaire zur Seite und stürmte auf Helen zu. Ihre Krallen blitzten auf und das Feuer traf sie, als sie sich auf die Häsin warf.
Helens Feuerstrom verebbte, als sie von den Füßen gerissen wurde. Hart landete sie auf dem Rücken, die Pantherin über sie gebeugt.
Helen wollte sich wehren, doch da packte Declaire ihren Hals mit beiden Händen und drückte zu.
Helen riss den Mund zu einem tonlosen Schrei auf und griff nach den Armen der Pantherin. Sie röchelte nach Luft und strampelte mit den Beinen, doch schaffte sie es nicht, Declaires Griff zu lockern.
Die Krallen bohrten sich in das Fleisch und langsam ließ das Strampeln nach. Helen sah die wirren Augen und die gebleckten Zähne Declaires, dann wurde ihr Blick glasig und sie rührte sich nicht mehr. Ihre Arme rutschten von Declaires Handgelenken und fielen taub auf das Gras.
Declaire ließ von Helen ab und betrachtete ihre Werk.
Lynns Tochter war tot.
Declaire stand auf, klopfte sich Staub und Asche vom Kleid und keuchte nach Luft. Ihre Korsage war am Bauch verbrannt und löchrig. Der Kampf hatte viel von ihrer Energie verzehrt und sie fühlte sich, als hätte sie einen Marathon bewältigt. Doch das Gefühl der Genugtuung wollte sich nicht einstellen.
Plötzlich spürt sie eine Hand, die sich auf ihre Schulter legte. Declaire sah auf und verlor sich in dem verführerischen Blick einer Füchsin. „Sunhào?"
Die Füchsin nickte ihr zu. „Du hast es geschafft. Du hast dich von den blockierenden Emotionen lösen können. Du bist ein Zàhng der Stufe Fünf."
„Was?!" Declaire riss die Augen auf und sah auf den Leichnam Helens. „Nein. Das ist falsch."
„Wie bitte?" Sunhào sah sie mit einem Ausdruck der Verwunderung an.
Declaires Augen wurden weich und begannen zu glänzen. Sämtliche Kampfeslust war wie verflogen. „Das hätte Lynn nicht gewollt."
Sie kniete sich zu Helens Körper nieder. „Sie hat Helen geliebt."
Declaire schloss Helens Augen und betrachtete ihre blutbefleckten Pfoten.
„Declaire!" Sunhàos Stimme klang nun wieder verzerrt und tief. „Weißt du, weshalb du hier bist, Declaire?"
Declaire antwortete nicht und trat zu dem Kerzenkreis. Die Flammen hatten auch das Herz Lynns erfasst, sodass es nun kaum noch als solches erkennbar war. „Lynn ...", hauchte Declaire gebrochen. Sämtliche Verzweiflung und Trauer, die sie in diesem Moment empfand, schwang in ihrer Stimme mit. „Es tut mir so leid. Ich habe mein Versprechen nicht halten können."
Eine Träne rann Declaires Wangen herab.
„Keine Sorge. Ich werde es dir zeigen."
Die Pantherin sah zu Sunhào, die ein keckes Grinsen im Gesicht trug.
„Du musst dich entscheiden!" Die Stimme der Füchsin verzerrte sich immer mehr, sodass sie kaum noch zu verstehen war.
„Declaire Verno'nh!" Ihr Gesichtsausdruck wandelte sich mit jeder Aussage und sie bewegte sich sehr statisch und unnatürlich. „Dann bestrafe ihn!"
Declaire sah die Füchsin verwundert an. Vor ihren Augen flimmerte es und ihr Kopf schmerzte.
„Siehst du, dass diese Liebe nur Schmerz und Leid bringt?"
Ein kalter Schauer durchschnitt Declaires Fell. Ihr Umfeld begann zu verschwimmen und hin und wieder blitzte alles schwarz auf. Die Bäume wirkten verzerrt, endeten abrupt im Nichts, waren entgegen ihrer Natur verbogen oder einfach abgeschnitten.
„Fehler im System. Declaire Verno'nh. Du bist ein Zàhng der Stufe Fünf. Hörst du ihre Schreie? Spürst du ihren Schmerz? Löse dich von den Gefühlen, die dich zurückhalten, in die Schlacht zu ziehen. Mein Name lautet Sunhào. Weißt du, weshalb du hier bist, Declaire?" Ihre Worte wiederholten sich ohne Pause.
Declaire riss die Augen auf. „Sunhào? Ist alles in Ordnung?"
Sunhàos Miene wandelte sich plötzlich in einen Ausdruck irrer Wut. „Declaire! Töte!"
Die Pantherin wich zurück. „Was ist hier los? Sunhào?"
Sie hielt sich die Ohren zu, da das heftige Dröhnen zu einem hohen Fiepen wurde, das Declaires Körper durchfuhr.
„Töte!" Sunhào riss das Maul auf und mit einem Mal war sie weg. Ihr Körper verschwand im Nichts, zurück blieb eine völlig perplexe Declaire.
Das Fiepen schallte nun noch lauter durch Declaires Ohren und ihr Körper begann unwillkürlich zu zittern. Sie drückte sich fester die Ohren zu, um dem Geräusch zu entgehen, doch nichts konnte das Fiepen stoppen. Sie ging in die Knie, schloss die Augen und schrie gegen den Schmerz an, der bis in ihr Innerstes vordrang.
Eine Weile spürte sie nur ihren Herzschlag, doch als sie die Augen wieder öffnete, bemerkte sie, dass das Fiepen abebbte.
Sie zuckte zurück, als sie ihr Spiegelbild erblickte. Kein Ton war mehr zu hören, also richtete sie sich wieder auf. „Ich bin wieder hier", bemerkte sie, als sie die fünf Türen sah.
Sie blickte erneut in den Spiegel. Die Spuren des Kampfes waren verschwunden, doch ihre Augen sahen müde aus, die Haare waren zerzaust und das Fell wirkte stumpf.
Seufzend wand sie sich ab und betrachtete die Türen, von denen vier nun zerstört waren. Nur die fünfte Tür war noch heil. Eine weiße Holztür mit goldenem Schloss. Die restlichen vier Türen waren fast bis zur Unkenntlichkeit demoliert. „Fünf Türen und bisher vier Opfer. Das heißt, es wird noch ein Opfer folgen?"
Sie schloss die Augen und seufzte. „Die Morde waren nicht notwendig gewesen. Was war nur los mit mir? Warum habe ich dies nur getan? Ich erkenne mich selbst kaum wieder."
Sie betrachtete sich wieder im Spiegelbild. Ihre Fingerspitzen berührten das kalte Glas. „Wer ist diese fremde Frau?"
Plötzlich meinte sie das Bild Sunhàos zu erkennen, die mit einem fiesen Grinsen hinter ihr stand. Declaire fuhr herum, doch sie war allein. „Sunhào. Sie hat mir das eingeredet. Sie hat ein Monster aus mir gemacht. Sie ist schuld am Tod von Helen und den anderen. Sie hat Lynn auf dem Gewissen!"
Plötzlich zuckte sie zusammen, als ein Krachen durch die Halle dröhnte. Declaire sah in den Spiegel, durch den sich ein Riss gezogen hatte. Ein schwarzer Blitz teilte den Spiegel und einen Herzschlag später brach er. Glassplitter flogen durch die Luft und für einen Moment sah es so aus, als ob die Zähne der Spiegelfassung aufeinanderschlugen, wie ein gieriges Monster, das nach seiner Beute schnappte.
Declaire sah in die funkelnden Augen des Ungeheuers und schrie auf.
Die Schwärze packte sie wie kalte Klauen und schließlich fiel sie. Die bodenlose Schwärze saugte sie ein und sie hatte keine Chance, zu entkommen. Laut kreischend ertrug sie es. Kurz setzte ihr Herz aus und keuchend öffnete sie die Augen.
Declaire wusste nicht, wo sie war. Blanke Schwärze umgab sie und sie spürte eine schmierige Flüssigkeit, die sie umgab. Mit einem zischenden Geräusch erschien ein Strahl aus Licht, der langsam größer wurde.
Declaire musste die Augen zusammenkneifen, um nicht von dem Licht geblendet zu werden. Doch schließlich konnte sie nicht anders, als die Auge weit aufzureißen. „Wo bin ich hier?"
Sie fand sich in einer großen Metallschale liegend vor, die mit einer Flüssigkeit gefüllt war. „Und wie lange bin ich schon hier?", fragte sie sich.
Declaire beugte sich vor und wollte aus dem fremdartigen Gerät steigen, doch etwas hielt sie zurück. Sie sah zurück und bemerkte die Kabel, die an verschiedenen Stellen ihres Körpers angebracht waren. Die Kabel führten in das Gerät, in dem sie lag und verschwanden dort. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie nackt war.
Die Pantherin packte eines der Kabel, das an ihrer Schläfe hing, und riss es ab. Ein Blutstropfen spritzte an der Stelle hervor, an der das Kabel angebracht war, doch Declaire spürte keinen Schmerz.
Sie entfernte auch die restlichen Kabel und konnte endlich das Gerät verlassen. Ihr Fell klebte eng an ihrem wohlgeformten Körper, doch ihre Augen schauten verwirrt. Als sie wieder auf festem Boden stand, konnte sie das Gerät betrachten, in dem sie gelegen hatte. Ein großer Tank, in den bequem eine Person liegen konnte.
Declaire bemerkte, dass dieser Raum sehr breit gestreckt war und hier mehrere Tanks gereiht waren, die fast alle geschlossen waren. Sie vermutete, dass andere Personen in den restlichen Tanks lagen.
Sie wollte niemandem nackt gegenübertreten, also suchte sie den Raum nach Kleidung ab, doch außer den Tanks fand sie nichts in diesen Raum. Die Wände waren mit schwarzen Fliesen bestückt und spiegelten sich leicht.
Declaire trat von ihrem Tank weg und bemerkte, dass der Boden sehr metallisch klang. Dünne Metallplatten dienten als Fußboden, doch Declaire spürte, dass diese sich nicht kalt anfühlten.
Neben der Tür fand Declaire einen kleinen Kasten, den sie sogleich öffnete. Hier hingen mehrere Gürtel, die mit allerlei Utensilien gespickt waren. Declaire entdeckte rotschwarze Kugeln an manchen Gürtel oder auch kleine Kapseln. Über den Gürtel waren Zeichen geschrieben. Declaire sah hinter sich und entdeckte das Zeichen, das auf ihrem Tank stand. „E Achtzehn. Da ist es ja." Schnell hatte sie den passenden Gürtel gefunden und legte ihn um die Taille. „Etwas mehr Kleidung hatte ich mir ja schon erhofft."
Als der Verschluss des Gürtels zuschnappte, erschien plötzlich eine schwarze Masse. Vom Gürtel ausgehend zog sich das dunkle Material um Declaires Körper.
Die Pantherin zuckte zurück und wollte den Gürtel wieder abnehmen, doch dann bemerkte sie, dass das Material einen Anzug bildete. Declaire wurde bis zum Hals in einen Anzug gehüllt, der sich eng an ihren Körper legte. Das schwarze Material machte einen belastbaren und dehnbaren Eindruck und trotz, dass der Anzug eng an ihr anlag, fühlte sie sich in ihrer Bewegungsfreiheit nicht eingeschränkt.
„Muss wohl ein Schutzanzug sein", überlegte sie und strich mit der Hand über den Anzug. Ihr fiel aus, dass ein metallisches Gerät an ihrem Handgelenk angebracht war. „Eine Waffe!", wusste sie sofort.
Des Weiteren stachen ihr die rosa Applikationen am Anzug auf, die an den Gelenken und am Bauch angebracht waren. Sie vermutete, dass es sich um zusätzlichen Schutz handelte.
Declaire trat an die Tür und murmelte: „Ich muss der Sache auf den Grund gehen. Ob ich entführt wurde?"
Sie drückte die Klinke. Es war nicht abgeschlossen.
Vorsichtig spähte sie nach draußen in den Gang, doch entdeckte sie niemanden. Leise schloss sie die Tür hinter sich und schaute sich im Flur um. Auch hier waren die Wände aus poliertem Stein, in denen sich Declaire spiegeln konnte. Während sie durch die Flur schlich und ihr Spiegelbild betrachtete, fiel ihr ein kleiner Ring auf, den sie am Ohr trug. Sie tastete nach dem Ohrring und spürte einen kleinen Haken am Ring und langsam dämmerte ihr, wo sie war. Mit zitternden Fingern ließ sie den Ohrring wieder los. Sie wusste genau, was passieren würde, wenn sie den Haken herauszog. „Bloß keine falsche Bewegung", überlegte sie und ging vorsichtig weiter.
Mehrere Türen kamen an ihr vorbei, die alle mit Zahlen gekennzeichnet wurde.
Plötzlich traten zwei Personen um eine Ecke und kamen auf sie zu.
Declaire begann zu zittern. Sie wusste, jetzt konnte sie sich nicht mehr verstecken.
Die beiden Fremden trugen den gleichen Anzug, wie sie es tat. Als die beiden näher kamen, würdigten sie Declaire keines Blickes und traten stumm an ihr vorbei.
Zögerlich erhob Declaire die Stimme: „Ähm ... Entschuldigung? Könntet ihr mir helfen?"
Die beiden beachteten sie nicht und gingen wortlos weiter.
Declaire seufzte. „Die strotzen ja nur so vor Hilfsbereitschaft."
Sie strich sich die noch feuchten Haare aus dem Gesicht und ging weiter. Declaire versuchte an Lynn zu denken, doch die letzte reale Begegnung, an die sie sich erinnern konnte, war sehr verschwommen. „Wir waren im Three Pots. Sie hat mir erzählt wie ihr Mann sie betrogen hatte."
Declaire durchwühlte ihr Gedächtnis und versuchte sich zu erinnern, was passiert war. Sie konnte sich noch grob an das Gespräch erinnern und an das Versprechen, das Declaire ihr gegeben hatte. „Ich würde immer bei ihr sein. Oh meine Güte, wie lang ist das jetzt schon her?"
Es kam ihr vor, als wären es erst wenige Wochen her, doch irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, das es bereits länger her war.
Plötzlich hielt sie im Laufen inne. „Ich wollte Lynn eine Unterkunft anbieten. Ich hatte kein großes Haus und das Modeln hat nicht viel eingebracht, also habe ich mich für etwas anderes entschieden."
Sie sah auf und betrachtete die schwarzen Fliesen der Wände. „Für das hier. Für Chénmò."
Erneut trat ein Fremder in ihr Blickfeld und lief schweigend an ihr vorbei. „Zàhngs", hauchte sie, als sie dem Yokai im schwarzen Anzug nachblickte.
Declaire rieb sich die schmerzende Stirn. „Ich wusste, dass die Organisation Chénmò nach weiteren Mitgliedern suchte und sehr gut bezahlte. Ich hatte mich vorher nicht wirklich informiert und einfach den Vertrag unterschrieben. Ich habe mich zu einem Zàhng ausbilden lassen!"
Sie hielt sich den Mund zu, als erneut jemand durch den Gang lief. Declaire versuchte sich nichts anmerken zu lassen und ging an dem Zàhng vorbei. Sie betrachtete ihre Hände, die von dem seltsamen Material überzogen waren. „Zàhngs sind starke Krieger, doch sind sie auch emotionslos und kalt. Wie sollte ich zu so einem Zàhng werden können? Hat es funktioniert? Ich kann mich nicht erinnern, was passiert ist."
Ihr Kopf schmerzte, als sie weiterging.
Vor einer Tür blieb sie stehen. Sie wusste nicht, wohin ihre Füße sie getragen hatten, doch hoffte sie, den Vorsitzenden der Organisation Chénmò zu finden. „Ich muss es herausfinden!"
Sie öffnete die Tür und eine Welle der Aufregung umspülte sie. Der Raum war klein, doch entfachte er eine Energiewelle, die Declaires Sinne benebelte. Ein Podest stand in der Mitte des Raumes, auf dem eine Glaskuppel stand.
Declaire trat näher, um zu erkennen, was sich im Schutz des Glases befand. Ihre Augen begannen zu glänzen, als sie den gewaltigen Kristall erblickte, der auf dem Podest thronte. Glatt polierte Kristallfragmente glänzten in hellem Blau und Türkis. Näher konnte Declaire nicht treten, dieser Kristall hatte eine so gewaltige Ausstrahlung, dass sie sie fast greifen konnte. Sie war sich sicher, bei diesem Kristall musste es sich um ein mächtiges Artefakt halten.
Declaire bemerkte die Kabel, die von dem Podest ausgehend in eine Anlage an der Wand führten. „Das muss eine Energiequelle sein. Daher kann dieser riesige Gebäudekomplex mit so viel Energie versorgt werden."
Nachdenklich betrachtete sie die Glaskuppel. „Es wäre ein Leichtes, den Kristall zu zerstören und die Energie abzustellen. Dann wäre hier alles dunkel und ich könnte fliehen. Nur leider weiß ich selbst bei Licht nicht, wo der Ausgang ist."
Einen Augenblick lang ließ sie den Anblick des Kristalls auf sich wirken, ehe sie wieder den Raum verließ.
Nur wenige Schritte von dem Raum mit dem Kristall entfernt fand Declaire schließlich eine Tür, über der in großen Druckbuchstaben 'BÜRO' stand. Die Tür war nur angelehnt und so konnte Declaire gut lauschen. Sie hörte Stimmen, die aus dem Büro kamen. Offenbar hatte der Leiter von Chénmò Besuch. Auf einem kleinen Schild neben der Tür konnte Declaire den Namen des Vorsitzenden lesen: „Keji Kaasu. Geschäftsgründer und -leiter."
Sie zuckte mit den Ohren, als sie die aufgebrachte Stimme einer Frau hörte: „Ich möchte meinen Sohn sehen, und zwar unverzüglich!"
Eine weitere, weitaus tiefere und monotonere Stimme erwiderte: „Frau Arohja, dies ist nicht möglich. Mit Unterzeichnung des Vertrages haben Sie sämtliche Rechte abgetreten. Besuch ist nicht gestattet. Ich kann Ihnen jedoch die Berichte von den Fortschritten ihres Sohnes aushändigen."
„Wir wollen keine Berichte!" Eine weitere Stimme, die sehr wütend klang, erhob sich.
Declaire zuckte zurück, als sie hörte, wie jemand auf den Tisch schlug.
„Ich muss sie nun höflichst bitten, uns wieder zu verlassen."
Eine Weile herrschte Stille, doch schließlich bemerkte Declaire, dass die Bürotür aufgerissen wurde. Sie sprang zurück und erblickte zwei erwachsene Dingos, die das Büro verließen. Die Frau wirkte sehr aufgebracht und leise murmelte sie zu ihrem Mann: „Ich wusste, dass wir ihn nie wieder sehen würden. Warum war ich damals nur so dumm gewesen?"
„Wir waren jung und haben eine dumme Entscheidung gefällt", versuchte sie der Mann zu beruhigen.
„Aber was haben wir jetzt von dem Geld?", seufzte die Frau und sie verschwanden um die Ecke, ohne von Declaire Notiz zu nehmen.
„Tritt ein, ich weiß, dass du da bist."
Ein Schauer durchfuhr Declaires Fell, als sie die Stimme hörte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in das Büro, aus dem die Stimme kam. Sie schluckte tief und trat ein.
Ein gewaltiger Schreibtisch dominierte den Raum, auf dem ein ebenso mächtiger Computer thronte. Die Wände waren mit Schränken vollgestellt, in denen Declaire Akten erkennen konnte.
Sie trat an den Schreibtisch, hinter dem ein Fuchs saß und an dem Computer arbeitete. Ihr Blick fiel auf ein eingerahmtes Foto, das auf dem Schreibtisch stand, worauf sich zwei junge Füchse befanden, die Keji Kaasu sehr ähnlich sahen.
Sie betrachtete wieder den Fuchs und ihr fiel sofort auf, dass er das gleiche Outfit wie sie und die anderen Zàhngs trug, jedoch waren seine Applikationen in weiß gehalten. Ebenso weiß waren die glatten Haare, die sein Gesicht umrahmten. Sein Fell hatte die typische orangene Fuchsfarbe, doch seine Augen strahlen ein kaltes Grau aus.
„Declaire. Solltest du nicht gerade Sunhào durchlaufen?", fragte Keji.
Declaire konnte in seiner Stimme keine unterschwelligen Gefühle wahrnehmen, sie war so kalt und monoton, dass sie auch von einer Maschine hätte kommen können.
Keji sah sie nicht an, während er sprach und tippte weiter in seine Tastatur.
Declaires Blick fiel auf die Waffe an Kejis Handgelenk, die sehr viel eindrucksvoller und gefährliche wirkte, als ihre eigene. Ebenso nahm sie von dem kleinen Ohrring Notiz, den sie auch selbst trug.
„Ich hätte ein paar Fragen", entgegnete Declaire und versuchte, so gleichgültig wie möglich zu klingen. Sie wusste, sie musste versuchen, wie ein Zàhng zu sprechen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, dies bedeutete: Neutrale Sprechweise und keine Emotionen zeigen. Zàhngs waren gefühllose Wesen.
Keji sah zu der Pantherin auf. „Ich spüre, du hast dich verändert. Etwas ist anders als zuvor."
Declaire zuckte zurück und bemerkte sofort, dass dies ein Fehler war. Sie durfte keine Gefühlsregung zeigen. Sie räusperte sich und sprach: „Ich kann mich nicht erinnern, was vorher war."
Keji nickte ihr zu. „In der Tat. Dann hat Sunhào gute Arbeit geleistet."
Declaire versuchte sich die Verwirrung nicht anmerken zu lassen und hielt dem eisgrauen Blick des Fuchses stand. „Wird dies bei jedem Zàhng getan?"
„Keineswegs. Doch dein Geist hat sich zu sehr gegen Sunhào gewehrt. Während du angeschlossen warst, hast du mehrere Male die Organisation, gar das gesamte Gelände verlassen. Bei einem außerörtlichen Einsatz warst du einen ganzen Monat lang verschwunden. Als du zurückgekehrt bist, sagten die Wärter, du wärst wie in einem Trancezustand, als hättest du dich nie von dem Programm gelöst."
Declaires Fell prickelte und sie konnte kaum ihre Muskeln beruhigen. Sie verkrampfte sich, um möglichst still stehen zu bleiben und fragte: „Gibt es eine Erklärung dafür?"
„Es gibt viele Zàhngs, die ungewöhnlich auf das Programm reagieren. Nicht jeder verträgt es gut."
„Das Programm Sunhào? Sie meinen ... diese Füchsin?"
„Das Programm schickt lediglich den Impuls. Deine Imagination manifestiert diesen Impuls zu deiner persönlichen Realität. Wenn Sunhào bei dir als Füchsin erscheint, dann ist das allein deine Vorstellungskraft, die Sunhào so erstellt hat."
Da die Pantherin nahe am Schreibtisch stand, konnte Keji nicht sehen, wie Declaire ihre Fäuste ballte. „Sunhào ist nicht echt", bemerkte sie.
Sie versuchte sich zu entspannen und fragte: „Sunhào ist also ein Programm?"
„Ein Programm, das ich entwickelt habe", erklärte Keji.
„Aus welchem Grund?"
„Ich habe es gegen Ende des Krieges in Lysha entwickelt. Der Prototyp war darauf ausgelegt, feindliche Truppen zu betäuben und damit zu schwächen. Doch es schlug fehl. Ich verwarf das Projekt für lange Zeit und testete es irgendwann an Wildtieren aus. Ich stellte fest, dass das Programm ihre Emotionen abtötete. Nach der Überarbeitung des Programms testete ich es mit einem Trainingsplan an mir und einigen Kollegen aus. Wir bildeten eine kleine Kampftruppe und gaben uns selbst den Namen Zàhng. Durch unsere Hilfe wurde der Krieg schnell beendet und man dankte den Zàhngs. Die Gesellschaft wollte mehr Zàhngs, um gegen den Krieg gewappnet zu sein und dies war die Geburtsstunde der Organisation Chénmò. Dies ist die Kurzfassung unserer Geschichte. Durch das Eingreifen in dein Gedächtnis, hast du die Geschichte sicher vergessen."
Declaire nickte.
Keji sah auf das eingerahmte Foto auf dem Schreibtisch und erklärte: „Das ist nun viele Jahre her und ich werde langsam alt. Das ist mein Neffe Kaith und meine Nichte Kalaida Kaasu. Leider ist Kalaida nicht mit bester Gesundheit gesegnet, daher nehme ich an, dass Kaith mein Erbe antritt. Ich habe selbst keine Kinder."
Declaire verstand nicht, warum Keji ihr das erzählte und fragte: „Pflanzen sich Zàhngs nicht fort?"
„Doch. Künstliche Befruchtung. Wir haben damals jedoch zu viel experimentiert. Ich bin nicht mehr zeugungsfähig."
Declaire rollte mit den Augen und fragte: „Warum wurden meine Erinnerungen ausgelöscht?"
„Du wurdest panisch. Hast rumgeschrien, warst nicht mehr zu beruhigen. Du hast versucht zu fliehen. Das Programm hatte keine Wirkung mehr gezeigt, bis wir in dein Erinnerungsvermögen eingedrungen sind. Seitdem bist du kooperativer und machst gute Fortschritte. Über die Jahre hast du dich zu einem fähigen Mitglied erwiesen."
Declaire riss die Schnauze auf und trat einen Schritt zurück. „Über die Jahre? Wie lange bin ich schon hier?"
„Vor fünf Jahren hast du den Vertrag unterzeichnet."
Keji blickte sie starr an und merkte an: „Offenbar scheint Sunhào doch nicht so gut anzuschlagen, wie ich erwartet hatte. Du zeigst zu viele Gefühlsregungen."
Declaire riss die Augen auf. „Nein!"
Sie hielt sich die Schnauze zu, doch Kejis Hand wurde zu einem Knopf geführt und er erklärte: „Ich rufe die Wärter. Wir müssen erneut bei Stufe Eins beginnen. Dein Erinnerungsvermögen ist noch zu stark ausgeprägt. Es blockiert dich zu sehr."
Declaire streckte die Hand aus und zielte mit der kleinen Waffe an ihrem Handgelenk auf den Fuchs. „Soll ich Ihnen was sagen? Die ganze Organisation ist grausam. Wie kann man anderen die Gefühle nehmen wollen, um sie zu gefügigen Kampfmaschinen zu machen? Das ist krank! Ich hätte mich hier nie anmelden dürfen. Nein, du hättest Sunhào nie entwickeln dürfen!"
Keji bemerkte, dass Declaire einem Ausbruch der Gefühle unterlag. Mit zuckenden Schultern stand er auf und drückte Declaires zitternden Arm runter. „Dank mir gibt es keinen Krieg mehr. Jegliche Mörder und Unruhestifter werden von Zàhngs unbemerkt aus dem Weg geräumt. Wir schaffen eine friedliche Welt."
„Ihr löscht Gewalt durch Gewalt aus. Das ist keine friedliche Art, einen Konflikt zu lösen!"
„Emotionen lösen Gewalt und Krieg aus. Würde sich jeder einzelne Yokai dazu entschließen, ein Zàhng zu werden, gäbe es ein Zeitalter des Friedens."
Declaire ballte die Fäuste und fauchte den Fuchs an. „Es wäre ein Zeitalter des Todes. Ihr seid doch keine Lebewesen mehr. Sunhào kontrolliert euch und macht euch zu leblosen Maschinen. Das muss aufhören!"
Keji bemerkte das Zähnefletschend der Pantherin und fragte: „Willst du mir etwa drohen? Ich bin ein perfekter Zàhng. Du hast keine Chance gegen mich."
Der Fuchs richtete nun seinerseits die Waffe auf Declaire und sagte: „Entweder du wirst einer von uns, oder du stirbst."
Declaire zitterte vor Angst. Sie wusste, dass ein Schuss aus dieser Waffe tödlich war. Sie versuchte, ihre Waffe zu erheben, doch sie konnte es nicht. Irgendetwas in ihr hielt sie zurück, den Fuchs zu bedrohen. „Ich bin nun mal kein Monster, so wie sie es sind", dachte sie sich.
„Ich rufe die Wärter. Sie bringen dich zurück."
Declaire beobachtete, wie Kejis Finger über den Knopf wanderte, der die Wärter rufen würde. „Oder bin ich doch eines?", murmelte sie. Ihre Augen begannen zu leuchten und mit einem Aufschrei sprang sie über den Tisch. Im Flug riss sie Keji um und fiel mit ihm zu Boden.
„Was soll ...?"
Weiter kam Keji nicht.
Sie hatte die Faust geballte und gab ihm einen kräftigen Schlag ins Gesicht. Durch den Schlag fiel sein Kopf zur Seite und legte sein Ohr frei, an dem der kleine Ring angebracht war.
Declaire zögerte einen Herzschlag lang, doch wusste sie, dass Keji sich gleich wehren würde, wenn sie nicht handelte. Sie packte an den Ring und bekam den kleinen Haken zu fassen, der daran angebracht war. Mit einem kraftvollen Ruck riss sie den Haken aus dem Ring.
Declaire meinte einen Ausdruck der Panik in Kejis Augen erkennen zu können, als er bemerkte, was sie getan hatte.
So schnell es ihr Körper ihr erlaubte, sprang Declaire auf und rannte aus dem Büro. Schnell knallte sie die Tür hinter sich zu und rannte zur Seite.
Ein lauter Schrei erhallte, der dicht gefolgt wurde von einer gewaltigen Explosion. Eine Druckwelle erfasste das Gebäude und die Wände bebten. Die Bürotür wurde aus den Angeln gerissen und zerschmetterte an der gegenüberliegenden Wand.
Declaire hielt sich an der Wand fest, um von der Druckwelle nicht umgeworfen zu werden. Sie sah zu dem von der Explosion völlig zerstörten Büro. Sie entschied, sich einen näheren Anblick zu ersparen und spurtete zügig durch den Gang.
Schnell fand sie den Raum, in dem sie den Kristall entdeckt hatte.
„Hier wird gleich alles voll sein. Ich muss mich beeilen!"
Sie ließ ihre Krallen blitzen und zerschlitzte die Kabel, die an dem Eiskristall angeschlossen waren. Augenblicklich fiel das Licht in dem Gebäude aus und Declaire fand sich in der Dunkelheit wieder. Da es keine Fenster gab, war es stockfinster in dem Gebäude, doch Declaire konnte hören, wie die Zàhngs durch die Gänge rannten und sich Befehle zuriefen. Sie würden ihre Tat bemerken, wenn sie sich nicht beeilte.
„Ich habe noch immer keine Ahnung, wie ich hier rauskomme", überlegte sie sich, doch dann erinnerte sie sich an die Worte Kejis. „Ich habe schon mehrmals hier raus gefunden. Als ich in Trance war. Das schaffe ich wieder!"
Sie schloss die Augen und ließ sich von der Schwärze einhüllen. Wie von selbst bewegte sie ihre Füße und arbeitete sich durch den riesigen Gebäudekomplex.
Es dauerte nicht lange, bis sie unbemerkt an der letzten Tür angelangt war, die sie in die Freiheit entlassen würde. Declaire öffnete die Augen, griff nach der Türklinke und verließ Chénmò.
Kapitel 04: Hotel
„Hey, was tust du da?!", brüllte die tiefe Stimme. „Wie kannst du es wagen ...?!"
Declaire ließ die Gartenschaufel durch die Luft sausen und mit einem dumpfen Schlag war alles von Schwärze erfüllt. „Gute Nacht, Koutha."
Der Nebel vor seinen Augen verschwamm und wich langsam einem immer klarerer werdenden Sichtfeld.
Die Schwärze verschwand und Koutha blinzelte verwundert. Sein Kopf dröhnte und seine Handgelenke schmerzten. Als er aus den Augenwinkeln das schwarze Fell einer Pantherin erkennen konnte, bereute er sofort, dass er für sie die Tür geöffnet hatte. „Ich wusste, dass du Ärger bedeutest", murmelte er und versuchte, seine Arme zu bewegen. Schnell wurde ihm klar, dass er festgekettet war. Metallringe waren um seine Handgelenke gekettet, die an einem Rohr an der Wand befestigt waren und seine Arme in die Luft hielten. Auch seine Füße waren gefesselt und so stand er breitbeinig an der kalten Kellerwand. Seinem Keller, in dem er so viele Stunden verbracht hatte und der zu seinem Lieblingsraum geworden war, neben dem Schlafzimmer. Wenn es etwas gab, das Koutha genauso so sehr interessierte, wie hübsche Frauen, dann war es die Handarbeit und dafür war sein Werkzeugkeller der ideale Ort gewesen.
Koutha rüttelte an den Ketten. Nun war keine Zeit, in Gedanken zu schwelgen. Er musste sich losreißen! „Hey! Was soll das?! Lass mich frei, du Miststück!"
Declaire achtete kaum auf den Hasen und betrachtete ihr Arsenal an Werkzeugen, die sie sich bereitgelegt hatte. Eine Schere, eine Säge, ein Hammer, ein Schraubenzieher, eine Zange und eine Feile lagen auf der Werkbank.
„Was willst du von mir?! Lynn ist längst nicht mehr hier!"
Declaire sah zu ihm und erst jetzt bemerkte Koutha das kalte Silber in den Augen der Pantherin. Ihm blieben die Worte im Halse stecken und sein Fell sträubte sich vor Angst. Er wusste den Blick nicht einzuordnen, doch wurde ihm schlagartig klar, dass er sich in einer sehr misslichen Lage befand. Die Eisenketten waren fest und er hatte keine Möglichkeit, sich zu befreien.
Declaire griff nach einem der Werkzeuge und trat näher an den Hasen. Sie spielte verführerisch mit dem langen Werkzeug, während sie auf den Hasen herabblickte. „Hiermit hat es angefangen. Lynn hat es mir erzählt. Du hast sie vernachlässigt und hast dich nur mit diesen Werkzeugen beschäftigt. Ist die Liebe zu deinen Werkzeugen wirklich größer, als deine Liebe zu Lynn?"
Koutha war zu perplex, um zu antworten. Sein Körper prickelte angespannt und sein Kopf drehte sich vor Übelkeit.
Declaire öffnete die Schnallen von Kouthas Latzhose und ließ diese sinken. Die Hose rutschte von seinen Beinen und zeigte mehr des hellgrauen Fells, das vor Angst wild gesträubt war.
„Hör auf damit!", brüllte Koutha sie an und wunderte sich, dass er noch eine so klare Stimme fassen konnte.
Declaire dachte gar nicht daran, aufzuhören. Es sollte erst beginnen! „Wollen wir doch mal sehen, wie sehr dich deine Werkzeuge lieben. Und welch Vergnügen sie bereiten können."
Sie setzte die Schere an Kouthas Bauch an und schloss die Schneiden.
Koutha hielt den Atem an.
Ein Schnitt folgte dem anderen und Koutha zuckte bei jedem zusammen.
Schließlich schlossen sich die Schneideblätter zum letzten Mal und Koutha sah an sich herab. Sein Shirt war zerschnitten und fiel zu Boden. Erleichtert atmete er aus. Kein Haar seines Pelzes wurde gekrümmt.
„Du warst nicht einmal fähig, Lynn ein Kind zu schenken. Bist kein richtiger Mann. Bist ein Nichts. Konntest ihr lediglich ein fremdes Kind als Ersatz geben."
Koutha sah ihr nach, wie sie wieder zu der Werkzeugbank ging. „Wir haben Helen adoptiert und Lynn hat sie geliebt. Und ich auch. Niemand kann das anzweifeln", warf er ihr entgegen.
Declaire stellte sich ihm gegenüber auf und sah ihn aus großen Augen an. „Du liebtest nicht nur deine Tochter, sondern auch noch andere Frauen. Nur Lynn konntest du keine Liebe mehr schenken. Keine Liebe, nur Verzweiflung. Was für ein Mann bist du, dass du die Hand gegen deine Frau erhebst?"
Sie vollführte eine schnelle Handbewegung und zog ihm eine Holzfeile über das Gesicht.
Das unebene Metall scheuerte über Kouthas Nase und Schnauze. Fell flog durch die Luft und Haut wurde aufgerissen.
Koutha riss vor Schock wie Augen auf, als er den Schmerz spürte, der sein Gesicht durchzog. Die Haut färbte sich rot, war aufgescheuert und brannte, als hätte Feuer das Gesicht versengt. Koutha gab einen nur mühselig unterdrückten Schmerzlaut von sich. „Du dreckiges Miststück! Ich mach dich fertig!"
„Vergnügtest dich mit anderen und brachst Lynn das Herz. Mehrmals. Bereitest ihr die Hölle vor. Ignoriertest ihre Tränen und die Verzweiflung."
Sie versenkte einen Fausthieb in seinem Schritt und grinste Koutha an. „Diese Verzweiflung wirst du nun am eigenen Leib spüren", hauchte sie.
Das Maul des Hasen war zu einem stummen Schmerzensschrei aufgerissen. Sein Körper wollte sich krümmen, doch die Fesseln machten es unmöglich.
„Weichei", murmelte Declaire und riss mit einem Krallenhieb das letzte Kleidungsstück von Kouthas Körper. „Ist ja wirklich winzig", murmelte sie.
Declaire kehrte ihm den Rücken zu und stolzierte erneut zur Werkbank.
„Weißt du, was ich Lynn vorgeschlagen habe, um dich für deine Vergehen zu bestrafen? Sie ist zu gutherzig, um sich zu wehren. Nicht so wie ich!" Sie blickte an Kouthas Körper herab, der leise jammerte. Der Schlag hatte gesessen und würde ihm wohl noch eine Weile in Erinnerung bleiben.
„Du hast ja keine Ahnung, wozu ich fähig bin, um Rache zu bekommen, mein Lieber. Du jämmerlicher Wurm wirst winseln! Ob wir den Schmerz noch steigern können?" Declaire sah wieder auf die Werkbank und griff nach einer Schraubzwinge. „Das wird dir Freude bereiten."
Koutha beobachtete, wie sich Declaire Handschuhe anzog. Er rüttelte an den Ketten, doch sie gaben nicht nach. Über sein Gesicht lief das Blut. Die Feile hatte die Haut aufgerissen, die nun schmerzlich brannte.
„Du hast es dir selbst zuzuschreiben", sagte Declaire und trat mit irrem Grinsen vor den Hasen. „Du hast meine Liebste gequält. Hast sie gefoltert. Ihr Herz und ihren Körper gebrochen."
„Verfluchter Teufel! Lass mich in Ruhe!", keifte Koutha. „Du bist nicht mehr als ein gebrochenes Monster!"
Declaire ging vor dem Hasen auf die Knie. „Hm, mickrig. Bin ich etwa nicht hübsch genug für dich? Nun gut. Besser für dich."
Koutha sah zitternd auf die Pantherin herab. Sie hielt ein Spannwerkzeug in den Händen, das Werkstücke zusammenpressen konnte. Er hatte eine Ahnung, was sie damit vorhaben könnte und wich mit der Hüfte zurück, doch er konnte nicht fliehen.
Declaire setzte die Schraubzwinge an. Declaire drehte an dem Gewinde und die beiden handtellergroßen Platten wurden zueinander geführt. „Dir gefällt doch guter Sex, nicht wahr?"
Koutha sah auf Declaire herab. „Wag es dich, du dreckiges ..."
„Du solltest lieber darauf achten, was du sagst. Ich hab dich in der Hand."
Koutha zuckte zusammen, doch dann grunzte er: „Du bist tot, hörst du?! Tot!"
Declaire drehte das Gewinde weiter und die Platten bewegten sich aufeinander zu.
Koutha keuchte auf. „Dreckige Hure ..."
Declaire sah zu ihm auf. „Ist das etwa schon zu eng für dich? Ihr Kerle mögt es doch eng."
Koutha legte den Kopf in den Nacken und stöhnte vor Schmerz. Seine Beine wurden weich und das dumpfe Gefühl des Leids fuhr ihm durch den Körper.
Genüsslich schenkte Declaire dem Gewinde eine weitere Umdrehung.
Koutha schrie inzwischen und warf den Kopf hin und her.
„Hast du nun genug?"
„Ja ...", hauchte er.
Erneut drehte sie am Gewinde. „Ich kann dich nicht hören."
„Ja verdammt!"
„Bereust du, was du Lynn angetan hast?"
„Ja! Jetzt mach das Scheißding lose! Sonst ..."
„Pech für dich." Declaire drehte das Gewinde ruckartig nach vorn.
Ein tonloser Schrei entglitt Kouthas weit aufgerissenem Maul, während seine Augen glasig wurden.
Declaire wandte sich erneut der Werkbank zu und wählte ein neues Hilfsmittel aus. Als sie wieder vor Koutha trat, stupste sie ihm gegen die Nase. „Hey. Wir sind noch nicht fertig."
„Warum bin ich noch bei Bewusstsein? Warum?", hauchte er mit gedrückt hoher Stimme.
„Weil ich erst angefangen habe", flüsterte ihm Declaire ins Ohr.
Mit trüben Augen sah er herab. „Warum bist du noch nicht tot? Warum bringt niemand diese Schlampe um?"
Declaire ging wieder auf die Knie und sah auf den dicken roten Schraubenzieher, den sie mitgebracht hatte.
„Hör auf", hauchte Koutha.
„Fick dich! Ich will dich leiden sehen!" Declaire packte den Schraubenzieher und hielt ihn auf Schritthöhe des Hasens.
„Spür das Leid, das du verursacht hast!", brüllte Declaire und stieß den Schraubenzieher in den Körper. Mit einem Rutsch riss sich das Metall durch die Haut und verschwand bis zum Griff Körper.
Koutha schrie erneut auf. Tränen rannen seine Wange herab und er versuchte etwas zu sagen, doch schaffte er es nicht mehr, Worte zu formen, sodass nur unverständliches Grunzen aus seinem Mund zu hören war.
Declaire stocherte mit dem Schraubenzieher herum, wandte ihn hin und her, zog ihn zurück und stieß erneut zu. „Wie gefällt es dir? Sex ist doch etwas wahnsinnig Schönes, nicht wahr? Genießt du es auch so sehr, wie ich?"
Koutha war nicht mehr in der Lage, auf Declaires Aussagen zu reagieren. Er wollte schreien, doch seine Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt, sodass nur ein röchelndes Krächzen zu hören war.
„Macht- und Folterspielchen sind doch dein Fetisch, nicht wahr?"
Koutha zuckte unter der Behandlung zusammen. Seine Handgelenke waren an den Ketten bereits blutig gescheuert und er hatte sich die Lippen aufgebissen, sodass ein rotes Rinnsal aus seinem Maul lief. Koutha krümmte sich vor Schmerz. Der glasige Schleier vor seinen Augen wurde immer dichter.
„Oh, das gefällt dir, hm? Aber ich verliere langsam die Lust daran. Du bist eben kein sonderlich guter Liebhaber."
Declaire zog den Schraubenzieher aus dem Körper. Ein Rinnsal aus Blut floss an den Beinen entlang, während Declaire auch die Schraubzwinge löste.
Declaire stand auf und sah Koutha in die Augen. „War das nicht ein schönes letztes Mal?"
Koutha erwiderte nichts. Blut lief aus seinem Maul und mit totem Blick sah er Declaire an.
Die Pantherin nahm den blutigen Schraubenzieher und rammte ihn ins Auge des Hasen. „Gute Nacht."
Declaire hielt sich den schmerzenden Kopf. „Oh nein! Ich habe Koutha wirklich gefoltert und ... umgebracht."
Ihre Krallen fuhren an der verschlossenen Tür entlang, die zu Lynns früheren Haus geführt hatte. „Ich kann mich wieder genau an alles erinnern. Ich habe ..."
Sie betrachtete das kleine Haus. Es passte gut in den kleinen Ort Eual. Declaire erinnerte sich, dass sie Lynn hier früher häufig besucht hatte, bis sie das Café Three Pots in Tarar zum gemeinsamen Treffpunkt gewählt hatten. Damals wohnte Declaire auch noch in Tarar. „Zumindest, bis ich in Chénmò eingezogen bin."
Lynns Haus stand nun verlassen da, doch Declaire wusste genau, wo sie suchen musste. „Das Harbour Hotel in Bide Creeve. Dort ist sie zuletzt hingegangen, um weit fern von Koutha einen Neuanfang starten zu können."
Mit dem neuen Ziel vor Augen schnappte sie sich ihr Gefährt. Während ihrer Flucht aus Chénmò hatte sie sich ein Kristallrad genommen, um schneller zu sein. Zu Fuß wäre sie weitaus länger unterwegs gewesen.
Die zwei Reifen des Kristallrads wirkten mächtig, als könnten sie Felsen unter sich zerquetschen. Kupferne Metallelemente bildeten das Gestell des Fortbewegungsmittels. Im vorderen Teil des Kristallrads, knapp unter dem Lenker war ein glühender Kristall in die Metallfassung eingebaut, dessen Energie zum Antrieb des Gefährts absorbiert wurde.
Declaire schwang sich auf das Rad, das sie vor Lynns Haus geparkt hatte, und drückte den Kristall in die Fassung.
Kurz glühte der glatt polierte Stein auf und das Rad begann sich in Bewegung zu versetzen.
Declaire zog sich eine Schutzbrille über die Augen und fuhr los.
Der Fahrtwind ließ die langen Haare durch die Luft wirbeln, während sie von Ort zu Ort reiste.
Die Landschaft flog an ihr vorbei, sodass sie diese gar nicht mehr wahr nahm. Die Bäume verschwammen zu einem trüben Nebel und nur Declaires Blick blieb klar.
Während sie über die Wege fuhr, überlegte sie: „Von Chénmò bis nach Bide Creeve bin ich fast eine Woche unterwegs. Diese weite Strecke musste ich ja bereits mindestens einmal auf mich genommen haben, als ich noch unter dem Einfluss Sunhàos stand. Dass ich mich daran kaum noch erinnern kann ... Die müssen mein Hirn wirklich einmal komplett ausgeschaltet haben."
Es war bereits später Nachmittag, als Declaire in dem Hafendorf Bide Creeve ankam.
Sie stieg von ihrem Rad ab und ließ ihren Blick durch den Ort schweifen. Der Dorfplatz war leergefegt, die Fensterläden geschlossen und alles wirkte verlassen. Declaire war sich nicht sicher, ob in diesem Ort überhaupt noch jemand war. Es wirkte wie ausgestorben. Ein trüber Nebelschleier hing über dem Dorf und Declaire hatte das Gefühl, durch die geschlossenen Fenster beobachtet zu werden.
Sie trabte durch die Wege, vorbei an leerstehenden Cafés und anderen Lokalen. Niemand verirrte sich nach draußen und so ging Declaire allein durch das leblose Dorf. „Wie lange war ich fort? Als ich zuletzt hier war, herrschte noch mehr Leben. Zumindest als ich bewusst hier war."
Declaire erreichte den Hafen und der salzige Duft des Meeres durchströmte sie.
Einst war Bide Creeve ein beliebter Hafen, bis er von einem größeren Anlieger einer anderen Hafenstadt abgelöst wurde. Nun standen nur noch ein paar einzelne Schiffe ungenutzt im Hafen.
Declaire seufzte und ließ das Meer hinter sich. Nicht weit vom Hafen entfernt kam das Hotel in Sicht.
Sie eilte zu dem alten Gebäude und öffnete die knarzende Tür.
Als Declaire das Hotel betrat, geriet sie in ein weit gespanntes Spinnennetz. Sie fuchtelte mit den Armen, um das Gewebe loszuwerden und stolperte vor an die Rezeption. Sitzmöglichkeiten und Zeitungen deuteten darauf hin, dass hier einst mehr los war, doch nun wirkte das Hotel wie ausgestorben, wie der Rest des Dorfes. „Ob die alle geflohen sind? Etwa vor ... mir?"
Sie schüttelte den Kopf und besah sich den Eingangsbereich. Die dunklen Möbel waren in eine Schicht Staub gehüllt und viele Spinnweben nannten das Hotel nun ihr neues Zuhause.
Declaire warf einen Blick auf die Zeitungen, doch diese machten einen sehr alten und zerschlissenen Eindruck.
Sie ballte die Fäuste und wandte sich an den Schreibtisch an der Rezeption, auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag. Declaire sah genauer hin. Es stellte sich als eine Liste von Hotelgästen heraus, die zuletzt hier waren. Declaire blätterte durch die Seiten. „Hm ... Marek Laviora." Sie markierte sich den Namen mit einem Rotstift. Die Frau blätterte weiter. „Mister Haver ... Ah, da! Lynn Barjun, Zimmer 2B"
Sie merkte sich die Nummer und trat hinter den Schreibtisch. Ein kleiner Schlüssel fiel Declaire in die Hand. „Den werde ich noch brauchen."
Sie griff sich eine llampe, entzündete sie und stieg die Treppe hoch ins zweite Stockwerk. Die Stufen knarzten bei jedem Schritt und Declaire wich mehreren Spinnweben aus.
Sie sah sich in dem lang gestreckten Gang um, dessen Boden aus braunviolettem Holz bestand. Die Tapete war an einigen Stellen abgerissen und vergilbt. „Sieht aus, als wäre dieser Ort seit Jahren verlassen. So lange kann ich doch nicht fort gewesen sein! Wie kann in dieser kurzen Zeit so viel geschehen sein? Außerdem spüre ich, dass Lynn noch hier ist. Sie kann noch nicht fort sein. "
Schnell fand sie die Tür, die zu Lynns Zimmer führen sollte. Als sie gerade die Tür öffnen wollte, begann sie zu zögern. Was erhoffte sie zu finden? Was würde sie zu Lynn sagen?
Declaire klopfte an und wartete einen Moment.
Nichts rührte sich.
Sie klopfte erneut.
Wieder nichts.
Declaire griff die Klinke und versuchte die Tür zu öffnen, doch diese war abgeschlossen. Die Pantherin zog den Schlüssel, den sie sich zuvor eingesteckt hatte, hervor und schloss die Tür auf. Quietschend öffnete sich die Holztür und ein leerer Raum wurde enthüllt. Das Zimmer war ordentlich, als wäre es frisch aufgeräumt worden. Eine feine Schicht Staub deutete jedoch darauf hin, dass dieses Zimmer seit längerem nicht betreten worden war.
Eins war sicher: Lynn war nicht hier.
Declaire schloss die Tür wieder und machte Kehrt. Sie dachte an die Namen, die sie im Buch gelesen hatte und ihr fielen wieder die Gesichter ein, die sie in ihrem Kopf bei Lynn gesehen hatte. „Marek Laviora. Wer bist du? Und welche Rolle spielst du für Lynn?"
Sie beschloss, Mareks Zimmer einen Besuch abzustatten und ging ins erste Stockwerk. Schnell fand sie die Tür, die zu Mareks Zimmer führte. „Zimmer 1E. Marek, ich hoffe du hast ein paar Antworten für mich."
Als sie das Zimmer betrat, bemerkte sie schnell, was für ein Typ dieser Marek war. Das Zimmer wirkte sehr unordentlich. Instrumente und die dazugehörigen Koffer waren willkürlich im Raum verteilt. Ein auffälliger Gitarrenkoffer lag neben dem ungemachten Bett und war nur halb geschlossen. Auf einem Schrank neben dem Bett stand ein altes Radio. Poster von einer Band hingen an den Wänden.
Declaire trat näher und sah sich die Bilder der Musiker genau an. „Iron Fox. Das ist Mareks Band", bemerkte sie und erkannte den Fuchs auf den Postern wieder. Er trug auf diesem Poster dunkle Lederklamotten, die einen sehr zerrissenen Eindruck machten. „Soll wohl gefährlich aussehen. Niedlich."
Declaire warf einen Blick aus dem Fenster und bemerkte ein paar knorrige Bäume, die schon tot wirkten. Durch den violetten Abendhimmel und den leichten Nebel sah die Baumrinde ebenfalls verfärbt aus. Die seltsame Verfärbung kam ihr irgendwie bekannt vor.
Sie trat an den Schrank, doch zögerte sie, diesen zu öffnen. Declaire sah sich das Radio genauer an und fragte sich, wie dieses Gerät noch hier sein konnte. „So etwas würde doch als Erstes gestohlen werden. Für die Großstadt ist das zwar nicht besonders wertvoll, aber für ein so kleines Dorf ist das schon fortschrittliche Technik."
Sie drückte eine Taste des Radios. Zwar erwartete sie nicht, dass es nach der langen Zeit noch funktionierte, doch sie war neugierig.
Statt Musik kam allerdings nur Rauschen aus dem Gerät. „Wie ich erwartet habe", seufzte sie.
Doch plötzlich schallte ein helles Gelächter aus dem Gerät.
Declaires Fell sträubte sich und ein Schatten legte sich über ihre Augen. Ein Blitz durchfuhr ihren Kopf und vor ihrem geistigen Auge spielte sich die Erinnerung ab.
„Hallo hübsche Frau. Darf ich Sie auf einen Drink einladen?"
Declaire betrachtete aus sicherer Entfernung die Bar, an der ein junger Fuchs saß und mit Lynn sprach. Lynn saß allein dort, das Gesicht in den Händen versunken und machte einen ziemlich bedrückten Eindruck.
Als Lynn die Stimme des fremden Fuchses bemerkte, hob sie den Kopf und sah ihn an. Sofort verlor sie sich in den rehbraunen Augen des Fuchses im goldenen Pelz. Er machte noch einen recht jungen Eindruck, trug zerschlissene Kleidung, die offenbar rebellisch wirken sollten. Die Haare waren wild gestylt und ein keckes Grinsen lag auf seinen Lefzen.
Declaire rollte mit den Augen, doch Lynn schien der Anblick zu gefallen.
„Oh ... du meine Güte. Marek? Von Iron Fox?!" Sie konnte kaum eine klare Stimme fassen. „Ich bin ein riesiger Fan!" Lynn räusperte sich und sprach nun etwas gefasster: „Ich meinte ... vielleicht ist das gar nicht so schlecht. Ein Drink wäre toll. Das lenkt mich ab."
Als Marek in Declaires Richtung sah, hob diese die Getränkekarte vor ihr Gesicht, um unentdeckt zu bleiben. Sie nippte an ihrem Getränk und beobachtete weiter aus sicherer Entfernung, wie das Gespräch zwischen den beiden Füchsen verlaufen würde.
Nachdem sich der Fuchs zu Lynn gesetzt hatte, fragte er: „Ablenken? Wovon müsste eine so attraktive junge Dame denn abgelenkt werden?"
Lynn seufzte tief und ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen. „Mein Mann ... Er war zuletzt zwar nicht gut zu mir, aber ich habe ihn geliebt. Er ist letzte Woche tot aufgefunden worden. Irgendein Monster soll ihn komplett zerfetzt haben, der ganze Raum muss mit Blut bespritzt gewesen sein. Und jetzt ist auch noch meine Tochter verschwunden."
Marek wirkte plötzlich etwas verunsichert, als Lynn über ihre Familienverhältnisse sprach. Hatte er Lynn vielleicht jünger geschätzt? Dass sie eine Mutter war, verstörte ihn offenbar.
Declaire beobachtete weiter.
„Oh, das ist natürlich nicht so schön zu hören. Da könnten sie wirklich einen Drink gebrauchen. Oh, wie unhöflich von mir. Ich bin übrigens Marek von Iron Fox", stellte sich der Fremde vor, um das Thema zu wechseln.
Lynn sah zu ihm auf. „Ich hab dich sofort wiedererkannt. Ich liebe Iron Fox."
Marek grinste sie an. „Oh, warst du auf unserem Konzert?"
„Natürlich! Oh es freut mich, dich kennenzulernen!"
„Die Freude ist ganz meinerseits." Marek nahm Lynns Pfote und gab ihr einen Kuss auf den Handrücken.
Declaire vertiefte sich wieder in die Karte, um nicht von den beiden entdeckt zu werden. Sie wollte eingreifen, doch sie hielt sich zurück und wartete ab, bis die beiden ein paar Drinks zu sich genommen hatten.
Als die Uhr erneut die volle Stunde schlug, sagte Lynn schließlich: „Ich sollte so langsam auf mein Zimmer gehen. Ich bekomme langsam ein ziemlich schlechtes Gewissen wegen Helen. Ich sollte mich nochmal mit dem Inspektor treffen. Vielen Dank für den netten Abend."
„Ich habe zu danken. Ich freue mich auf ein Wiedersehen."
Marek zwinkerte ihr zu, als Lynn ihr letztes Glas leerte und die Bar verließ.
Declaire wartete geduldig, bis Lynn das Lokal verlassen hatte und ging anschließend auf Marek zu.
„Die Rechnung bitte", murmelte Marek dem Kellner zu, als er plötzlich Declaire aus den Augenwinkeln bemerkte. „Vielleicht doch noch nicht. Ich nehm noch einen", ließ er den Kellner wissen.
Declaire trat an den Tisch, wo sie schon von den lüsternen Blicken Mareks begrüßt wurde.
„Hast du ein Zimmer?", fragte Declaire und warf ihm ein Zwinkern zu.
Marek nickte und das Grinsen auf seinem Gesicht wurde immer breiter. Er winkte einer Gruppe anderen Füchsen zu, die etwas entfernt saßen und rief: „Wir sehen uns morgen."
„Hat unser Welpe es doch tatsächlich geschafft, eine Braut abzuschleppen", lachte einer aus der Gruppe.
Die anderen stimmten in das Lachen mit ein, während Marek abwinkte. „Achte nicht auf die Idioten. Ich zeig dir mein Zimmer."
Declaire schloss die Tür und betrachtete das Zimmer. Ob Lynn wusste, dass Marek im selben Hotel wie sie wohnte? Offenbar hatte Marek auch geplant, länger im Harbour Hotel zu verweilen, da sein Zimmer sehr häuslich eingerichtet war. Überall standen Instrumente und ähnliche Ausrüstung für die Band herum. Ein altes Radio stand auf einem Tisch und spielte nervige Musik. Ein großes Plakat, auf dem Marek mit seiner Band abgebildet waren, hing über dem Bett.
Declaire rollte mit den Augen und beobachtete den Fuchs, der sich auf sein Bett warf.
Marek deutete mit der Schnauze auf den Platz neben sich und räkelte sich genüsslich auf dem Bett.
Mit ausdrucksloser Miene trat Declaire neben ihn und beobachtete, wie sich der Fuchs Shirt und Weste auszog.
Marek war schlank und ohne Muskeln.
Declaire verkniff sich ein Grinsen.
„Weißt du, ich steh total auf Gothicbräute. Du bist zwar kein Fuchs aber du würdest gut in unsere Band passen. Spielst du ein Instrument?", fragte Marek und knöpfte sich die Hose auf.
Declaire strich ihr schwarzes Kleid glatt und kniete sich auf das Bett. Sie bemühte sich zu einem lustvollen Blick, obwohl sie diesem Fuchs mehr als nur abgeneigt war. „Nein."
„Na gut. Vielleicht kann ich dir das ja noch beibringen. Zeig mir mal, wie gut du mit meinem Instrument umgehen kannst."
Declaire biss sich auf die Zunge. Sie würde Marek am liebsten nicht nur sinnbildlich den Kopf verdrehen, doch sie zwang sich zur Geduld.
Marek lehnte sich zurück auf sein Kissen, verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und sah mit wedelndem Schweif auf die Pantherin hinauf.
Declaire kroch näher an den Fuchs und kniete sich über ihn. Ihr weites Kleid bedeckte Mareks Unterkörper fast gänzlich, dennoch konnte Declaire die Erregung spüren. Ein unangenehmer Duft stieg ihr in die Nase und sie zwang sich dazu, nicht das Gesicht zu verzerren. Sie konzentrierte sich und entließ alle Emotionen, die Ekel beinhalteten, aus ihrem Kopf und beugte sich über den Fuchs. Gekünstelt stöhnte sie, als die Erregung Mareks über ihre Leiste drückte.
Mareks Augen wurden weich vor Erregung und Trunkenheit. Er stieß seine Hüfte Declaire entgegen. Sein Geschlecht pulsierte unter dem Stoff und verbreitete mehr des Geruchs, der tief in Declaires Nase stach.
Die Pantherin peitschte mit dem Schweif und rümpfte die Nase. Sie hob ihr Becken, um dem Objekt ihres Ekels zu entgehen. Ihre Pupillen verschwanden gänzlich in dem eisigen Grau ihrer Augen und leise hauchte sie in Mareks Ohr: „Weißt du, Lynn ist eine besondere Füchsin. Nicht jeder verdient sie."
Marek sah sie verwirrt an. „Wer?"
„Es gibt nur eine Person, die sie lieben darf."
„Was ist los? Wovon sprichst du?" Marek bemerkte das tiefe Grau in ihren Augen und legte die Ohren an. Sein Fell sträubte sich und er wand sich unter der Pantherin. Ihm wurde klar, dass mit ihr etwas nicht stimmte.
„Und das bist nicht du!" Declaire riss ihr Maul auf und schrie den Fuchs an. Sie ließ ihre Klaue durch die Luft wirbeln und zog sie über die Kehle des Fuchses.
Mareks Schnauze war zu einem stummen Schrei aufgerissen, während aus der Halswunde ein Strom aus Blut schoss.
Blutstropfen überströmten das Kleid der Pantherin, die zufrieden auf den Fuchs sah. Ihre Lefzen waren zu einem irren Grinsen gezogen und ihre Augen leuchteten.
Marek schaffte es in seinem Adrenalinrausch die Pantherin von sich herunterzuschubsen und aus dem Bett zu springen. Er hielt sich die blutende Kehle und taumelte an den Schrank. Marek gab noch ein röchelndes Geräusch von sich und brach zusammen. Bei seinem Absturz riss er das Radio mit sich und fiel rücklings zu Boden. Sein Kopf landete in dem geöffneten Gitarrenkoffer, wo er schließlich bewusstlos liegen blieb.
Declaire, die nun neben dem Bett lag, richtete den Oberkörper auf und lachte hämisch. Sie betrachtete zufrieden den leblosen Körper des Fuchses und stand auf. Mit vor Energie glühenden Augen setzte sie den Fuß auf die obere Hälfte des Koffers und sah triumphierend in die leblosen Augen des Fuchses. Sie trat den Koffer zu und mit einem Knacken verschwand der Kopf Mareks in der Dunkelheit.
Nervös strich sich Declaire über ihr Genick und schaltete das Radio aus. Sie richtete ihren Blick auf den Koffer, in dem eine Gitarre gemütlich Platz finden konnte. „Oder ein Schädel."
Der Koffer war nur halb geschlossen, doch Declaire entschied sich dagegen, ihn zu öffnen. Jedoch fiel Declaire ein kleines Symbol auf, das auf den Koffer gezeichnet war. Sie kniete sich nieder, um sich die Zeichnung genauer anzusehen. Es war rote Farbe, die im einfallenden Licht ihrer llampe leicht glänzte. Declaire erinnerte sich, dass sie das Symbol schon einmal gesehen hatte.
Sie stand wieder auf und verließ das Zimmer.
„Marek also auch. Es muss noch mehr Opfer gegeben haben. Hm ... Mister Haver." Declaire erinnerte sich, dass sie den Namen im Buch an der Rezeption gelesen hatte. Vielleicht würde sie in seinem Zimmer mehr Hinweise finden.
Sie ließ das erste Stockwerk hinter sich und stieg die Treppen hoch.
Vor dem Zimmer mit der Aufschrift 2F blieb sie stehen. „Oh bitte, mach, dass nicht noch mehr Blut an meinen Händen klebt."
Declaire öffnete die Tür und bemerkte als erstes die vielen Vermisstenanzeigen, die an die Wand geheftet waren. Die kleine Häsin Helen war auf den Blättern zu erkennen. „Helen war verschwunden?" Ein finsterer Gedanke schoss durch Declaires Kopf. „Oh nein! Lass mich sie nicht auch getötet haben. Das würde Lynn nicht verkraften."
Ihr Schädel schmerzte und so ließ sie sich auf einen großen Sessel fallen, der im Zimmer stand. Als sie sich an das Polster des Sessels schmiegte, fuhr erneut ein Blitz durch ihren Kopf und der Nebel der Unklarheit lichtete sich immer mehr.
Declaire betrachtete sich im Spiegel. Ihr Kleid war mit Blut völlig besudelt und verschmiert. Ihr gefiel der Anblick, doch wusste sie, dass sie damit unnötig Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde. Sie sah hinter sich und betrachtete den leblosen Körper Mareks. Sie entkleidete sich und versteckte ihr Kleid im Schrank, anschließend schnallte sie sich den Gürtel um. Die schwarze Masse umhüllte ihren Körper bis zum Hals und bildete das Outfit der Zhàng. Auf diesem Material würde wenigstens kein Blut mehr haften. Sie nahm sich ihre Tasche und warf einen kurzen Blick hinein. Sie hatte noch immer den roten Schraubenzieher aus Kouthas Arbeitskeller dabei.
Declaire betrachtete ihre Schusswaffe am Handgelenk. Damit hätte sie Marek und Koutha sehr viel weniger schmutzig aus dem Weg räumen können. „Aber dann wäre es auch viel langweiliger gewesen", dachte sie grinsend und trat aus dem Raum. Sie schloss die Tür ab und sah sich in dem Flur um. Niemand hatte den Zwischenfall bemerkt. Der Flur war leer und Declaire beschloss, sich auf direktem Weg zu Lynn zu machen.
Es war bereits spät und so waren nur noch wenige Leute auf den Beinen.
Declaire wollte keine Aufmerksamkeit erregen und schlich in das zweite Stockwerk, wo sie Lynn vermutete. „Sie ist sicher noch bei diesem Inspektor, der mit der Suche nach Helen beauftragt wurde."
Sie spitzte die Ohren, als sie die Stimme Lynns vernahm.
„Vielen Dank für ihre Mühe. Sie informieren mich, sobald sie etwas Neues hören?"
Declaire sah auf die Zimmertür. „Zimmer 2F. Mister Haver", murmelte sie vor sich hin.
Als sich die Tür plötzlich öffnete, trat Lynn heraus.
Declaire versteckte sich im Schatten der Tür und beobachtete die beiden.
Lynn verabschiedete sich von dem Inspektor und ging in die andere Richtung davon.
Die Pantherin wollte abwarten, bis der Inspektor in seinem Zimmer verschwunden war, um sich allein Lynn zu widmen, doch dieser öffnete Tür gänzlich und sah Declaire an. „Ich wusste, dass du kommen würdest."
Einen Augenblick lang starrte Declaire den Dachs an. Zwar wirkte sein äußeres Erscheinungsbild nicht beeindruckend, doch sorgte er für einen kurzen Schauer in Declaires Fell. „Wer bist du?", knurrte Declaire.
Der Dachs bat Declaire in sein Zimmer und stellte sich vor: „Ich bin Mister Haver. Aber noch viel wichtiger ist doch, wer du bist. Declaire Verno'nh."
Declaire schloss die Tür hinter sich und musterte den Dachs. Sein schwarzweißes Fell war ordentlich gekämmt und der leichte Bauch unter einem blauen Anzug verhüllt. Die orangenen Augen sahen hinter einer Brille wachsam auf die Pantherin, während er nach einer Lupe griff, die auf seinem Schreibtisch lag.
Declaire kam der Dachs bekannt vor, irgendwann hatte sie schon einmal mit ihm zu tun gehabt, doch das war lange her. „Was willst du?", fragte sie.
Sie schaffte es, sich einen schnellen Überblick über das Zimmer zu machen. Ein großer blauer Sessel dominierte den Raum und Declaire fragte sich, ob der Inspektor diesen selbst ins Hotel gebracht hatte. Zeitungsausschnitte und Vermisstenanzeigen waren an einer Pinnwand befestigt, auf denen Helen zu erkennen waren. Auf dem großen Schreibtisch waren allerlei Zettel verteilt. Eine Schreibmaschine, eine Kaffeetasse, Stifte und eine llampe fanden auch ihren Platz auf dem Tisch.
„Ich habe Nachforschungen bezüglich Helen unternommen. Frau Barjun konnte mir bestätigen, dass sie viel Zeit mit Ihnen verbracht hatte, kurz bevor sie ins Harbour Hotel gezogen ist. Helen war offenbar nicht gut auf Sie zu sprechen."
Declaire wickelte ihre Haare um den Finger und sah den Dachs mit ausdruckslosem Blick an. „Und weiter? Mir ist bewusst, dass diese Rotzgöre mich nicht mag."
Unbeirrt fuhr Mister Haver fort: „Helen gibt Ihnen die Schuld an Koutha Barjuns Tod. Sie sind die Mörderin von Helens Vater."
Declaire wirkte einen Augenblick lang betroffen, doch sofort gewann sie die Kontrolle über sich wieder. Zàhngs durften keine Gefühlsregungen zeigen. Sie beherrschte sich. „Hat sie das behauptet? Wann? Während sie verschwunden war?"
Mister Haver lächelte selbstsicher: „Nein, sie hat Notizen hinterlassen. Sie wusste Bescheid. Der Rest ist meine eigene Recherche. Sie sind Mitglied der Organisation Chénmò, die ..."
Declaire erhob den Arm und zielte mit der Waffe auf den Dachs. Ein hauchfeiner Laserstrahl schoss durch die Luft.
Der Inspektor riss den Arm vor sich. Der rote Strahl traf die Linse der Lupe, die er in der Hand hielt. Der Strahl wurde abgelenkt und zurück zum Verursacher geschossen.
Declaire riss die Augen auf. In Bruchteilen einer Sekunde war der Strahl zurückgefeuert worden und traf ihre Waffe. Eine kleine Explosion erhallte und Rauch stieg aus der Laserwaffe.
„Nicht eine Lupe, sondern ein Spiegel. Dachten Sie, ich wäre nicht vorbereitet? Damit sind sie verhaftet!", offenbarte der Dachs.
Declaire war einen Moment lang zu perplex, um zu reagieren und sah aus den Augenwinkeln, wie Mister Haver nach einem Funkgerät griff. Er würde Verstärkung rufen! „Das werde ich verhindern!"
Declaire stürmte auf den Dachs zu, schnappte sich die gelöschte llampe auf dem Tisch und schleuderte sie dem Inspektor entgegen.
Der Dachs fluchte auf, als das Glas an seinem Gesicht zersplitterte und einen Kratzer über seine Nase zog.
Durch den Schock ließ er das Funkgerät fallen. Er hatte keine Zeit, es aufzuheben, da Declaire bereits über den Tisch sprang und ihn anzugreifen versuchte.
Mister Haver wich zurück, stolperte und fiel in seinen Sessel. Mit vor Schock weit aufgerissenen Augen sah er auf Declaire.
„Du hättest einen schnelleren Tod haben können", merkte Declaire an und holte den Schraubenzieher aus ihrer Tasche. Mit glühenden Augen stapfte sie vor den Sessel und hob den Arm, den Schraubenzieher fest mit der Hand umklammert.
„Nein!" Mister Haver schloss die Augen, als sie den Arm auf ihn hinabrasen ließ.
Kapitel 05: Schuld
Declaire lehnte sich an den Schreibtisch an der Rezeption. „Mister Haver also auch. Und auch da war wieder so ein komisches Symbol. Und ich weiß trotzdem noch nicht, wo sich Lynn aufhalten könnte."
Sie sah sich in dem Eingangsbereich um und ihr fiel eine Lücke auf, die versteckt in einer Nische lag. Declaire trabte durch den Raum und bemerkte in der Nische ein paar Treppenstufen, die in die Tiefe führten. Offenbar ein Keller.
Sie stieg die Stufen hinab und blieb vor einer Tür stehen, die gänzlich aus Stein gemacht worden zu sein schien. Lediglich ein paar Metallelemente für die Scharniere und das Schloss waren eingebaut, doch abgesehen davon war die Tür aus einem großen Stein gehauen.
Declaire zwirbelte ihre Haare um einen Finger und überlegte. Irgendwie kam ihr diese Tür bekannt vor. „Ich habe in letzter Zeit definitiv zu viele Türen gesehen. Aber Moment mal ..." Gedanklich fand sie sich vor dem riesigen Spiegel mit aufgerissenem Maul wieder. „In dem Raum waren fünf Türen. Hinter einer steinernen Tür war Helen und diese Tür sieht exakt so aus wie diese."
Sie ergriff den Türknauf, doch dann zögerte sie. „Aber das macht keinen Sinn. Bei den anderen Türen war das doch auch nicht so. Oder vielleicht ... doch?"
Declaire öffnete die Tür und vor ihr erstreckte sich ein schmaler Gang, der weit in die Ferne führte.
Die Pantherin hielt ihre llampe fest umklammert und durchschritt den Gang, der zunehmend breiter wurde. Kratzspuren durchzogen den Boden und ihr fielen schwarze Verkohlungen an der Wand auf. Offenbar hatte hier mal ein Feuer gewütet.
Das Ende des Kellerraumes kam in Sicht und dann sah Declaire sie. Helen lag vor einem Podest auf dem Boden. Declaire schrie auf und in ihren Augen zuckte ein Blitz hervor.
Declaire fand sich vor der Kellertür wieder und prüfte ihre Waffe. Durch die Überladung war sie zeitweise lahm gelegt, doch nun funktionierte sie wieder einwandfrei. „Helen Barjun", murmelte sie. „Du weißt zu viel."
Ihre Füße hatten sie vor die Kellertür des Harbour Hotels geführt. „Bevor ich Lynn gänzlich für mich allein haben kann, muss ich noch dieses letzte Opfer bringen."
Sie spitzte die Ohren und lauschte an der Tür. Deutlich konnte Declaire den Duft Helens wahrnehmen. Sie war hier!
„Sie wird seit Tagen vermisst und versteckt sich ausgerechnet hier?! Für allzu fähig würde ich diesen Inspektor ja nicht einschätzen."
Declaire legte die Hand auf die Klinke und drückte sie vorsichtig herunter. Behutsam, auf dass sie keinen Laut verursachen würde, schob sie die Tür auf und spähte in den dahinterliegenden Raum. Offenbar wurde der Keller schon seit längerem nicht gesäubert. Der Muff vergangener Jahre stieg Declaire in die Nase und ein trockener Geschmack legte sich auf ihre Zunge.
Am Ende des Kellerraumes entdeckte sie schließlich Helen. Die junge Häsin hatte ihr den Rücken zugewandt und saß im Schneidersitz vor einem Podest, auf dem eine goldene Schale thronte. Um Helen herum standen mehrere flackernde Kerzen im Kreis.
Noch bevor Declaire ihre Waffe zücken konnte, sprach Helen: „Ich wusste, du würdest kommen. Mama hat dich immer für eine gute Freundin gehalten aber ich wusste es besser. Von Anfang an habe ich in dir das Monster gesehen."
Declaire trat näher durch den düsteren Keller. Der Steinboden fühlte sich kalt an und die Luft war stickig. „Ziemlich große Anschuldigungen für ein kleines Mädchen."
Helen stand auf, den Rücken noch immer zu Declaire gewandt. Ihr weites Kleid schimmerte im einfallenden Kerzenlicht in kühlen Blau- und Violetttönen. „Unterschätze mich nicht. Ich beherrsche Dinge, die selbst du nicht kannst."
Declaire verschränkte die Arme und sah überheblich auf das Mädchen herab. Sie waren nur noch wenige Schritte voneinander entfernt. „Ach ja? Und was sollen das für Dinge sein?"
„Ich kenne deine Kräfte bereits. Papa hat mir alles erzählt. Ich weiß genau, was du ihm angetan hast."
„Koutha ist tot!", betonte Declaire.
Helen sah auf die Schale, die auf dem Podest lag und flüsterte: „Für dich vielleicht. Ich jedoch kann noch Kontakt zu ihm aufnehmen."
Sie drehte sich zu Declaire um und grinste sie an. „Allerdings fordert schwarze Magie ihren Tribut."
Dort, wo einst die strahlend violetten Kinderaugen saßen, gähnte nun die schwarze Tiefe.
Declaire konnte es nicht verbergen, vor Schock zurückzuschrecken und das Fell zu sträuben.
„Ich werde dich aufhalten und Mama beschützen. Sie wird dir nicht in deine dreckigen Krallen fallen!" Helen riss die Schnauze zu einem tonlosen Schrei auf und breitete die Arme aus. Ihr Kleid begann zu flattern und ihre braunen Haare begannen wie statisch aufgeladen zu Berge zu stehen. Die Flammen der Kerzen flackerten wild, wuchsen an und verschmolzen miteinander. Ein gewaltiger Ring aus Feuer, der sich blau verfärbte, umgab die Häsin, die Declaire aus toten Augenhöhlen anstarrte. Ihr Kreischen wurde hörbar und die Flammen schossen in vielen Feuerkugeln auf Declaire zu.
Die Frau schrie auf, wich zur Seite aus und umging der ersten Salve aus Feuerkugeln, doch die nächste ließ nicht lange auf sich warten. Das Feuer schoss durch die Luft, prallte an den Wänden ab und erlosch dort, wo es schwarzen Ruß hinterließ.
Während Declaire auswich, hob sie ihre Waffe und schoss ungezielt in Helens Richtung. Ein roter Strahl schoss durch die Luft und schlug vor Helen am Boden ein. Die Druckwelle warf das junge Mädchen zurück und schleuderte die gegen das Podest. Zeitgleich ließen die Feuerkugeln nach und die Kerzen erloschen.
Durch den Stoß gegen das Podest wackelte die goldene Schale, die darauf thronte und fiel schließlich zu Boden. Ein faustgroßer Gegenstand rollte aus der Schale und blieb liegen.
Auf den ersten Blick konnte Declaire nicht erkennen, was dort lag, doch als sie bemerkte, dass es pulsierte und von Blut durchströmt war, dämmerte es ihr.
Declaire richtete die Waffe auf und schoss auf das pochende Objekt, das sofort unter einer Explosion zerrissen wurde.
Helen sprang wieder auf und brüllte: „Du hast meinen Papa umgebracht! Dafür wirst du bluten!"
Das junge Mädchen streckte ihre Hand zu ihr aus. Schwarze Fäden, die so fein wie Haare waren, schossen aus ihren Fingerspitzen und flogen zu Declaire.
Die Fäden trafen ihre Hand und Fußgelenke und schienen zwischen ihrem Fell zu verschwinden. „Was tust du da?!, brüllte Declaire.
Doch über Helens Gesicht zog sich nur ein breites Grinsen. Sie bewegte ihre Finger und zeitgleich bewegten sich Declaires Gliedmaßen.
Ohne, dass Declaire sich dagegen wehren konnte, wurde sie auf die Knie gezwungen und verneigte sich vor Helen.
„Du beugst dich meiner Macht. Ich werde es beenden!", brüllte Helen und zuckte mit der Hand auf, die mit den schwarzen Fäden in Verbindung stand.
Declaire richtete den Oberkörper auf und ihr Arm richtete sich auf ihren Kopf. Das leichte Fiepen, das ihre Waffe auslöste, war ein klares Zeichen dafür, dass gleich der Laserstrahl losfeuern würde. Declaire sah Helen aus großen Augen an. Gleich würde es vorbei sein. Gleich würde der Strahl eine Explosion auslösen, die sie vernichten würde. Sie spürte den Lauf der Waffe an ihrer Schläfe.
„Du wirst sterben!", lachte Helen und machte eine letzte Handbewegung, die den Laserstrahl aktivierte.
„Ich bin stärker", widersprach Declaire und riss ihren Arm herum. Die feinen Fäden zerrissen und der Laserstrahl schoss durch die Luft.
„Nein!", brüllte Helen.
Doch zu spät.
Der Strahl erfasste sie und eine Explosion schallte durch den Raum. Staub wurde aufgewirbelt und verschleierte die Sicht über den Schaden, den der Angriff angerichtet hatte.
Declaire grinste zufrieden, klopfte sich den Schmutz ab und stand auf. „Jetzt habe ich Lynn für mich ganz allein."
Declaire fiel auf die Knie, ließ ihr Gesicht in ihren Händen versinken und verlor ein paar Tränen. Sämtliche Erinnerungen waren zurückgekehrt und sie war sich ihrer Schuld bewusst. Koutha, Marek, Mister Haver und Helen hatte sie bereits auf dem Gewissen.
Declaire ballte die Fäuste und schlug auf den Boden. „Keji! Wenn er nicht schon tot wäre, würde ich ihn dafür meucheln. Sunhào ist die wahre Mörderin, nicht ich. Ich habe doch nichts getan. Nichts von den ganzen Sachen war willentlich geschehen."
Sie blickte auf. Neben Helens Leichnam war mit roter Farbe ein Symbol gemalt.
Declaire kroch näher an die Zeichnung und fuhr die Linien mit dem Finger nach. Es war ein ähnliches Zeichen, wie sie es schon bei Marek und Mister Haver gesehen hatte. „Ich habe diese Symbole ... Was ist das? Runen? Sternzeichen? Ich muss sie gemalt haben. Aber woher kenne ich sie?"
Die Pantherin seufzte. „Lynn ..."
Declaire kniff die Augen zusammen, die sich mit immer mehr Tränen füllten. „Ich habe ihr Leben zerstört."
Plötzlich schossen ihr erneut Bilder durch den Kopf. Ein letzter, schwacher Blitz leuchtete vor ihrem geistigen Auge auf und sie konnte sehen, was mit Lynn geschah. Tränen rannen über Declaires Wangen und ihr ganzer Körper zitterte. Der eiskalte Nebel der Reue umgab ihren Körper wie ein Kleid. Ein Kleid, das sie nie wieder ablegen können würde.
Declaire blinzelte und sah die fünf Türen, die in den letzten Tagen nicht aus ihrem Gedächtnis gehen wollten. Es blieb eine Tür übrig, die sie nie passiert hatte, die noch gänzlich intakt war und einen heilen Zustand besaß. Eine Tür, so weiß wie die Reinheit selbst, mit goldenem Schloss, das wie die Sonne in der wärmsten Jahreszeit leuchtete. Eine Wärme, die sich um Declaires Herz schmiegte und ihr Trost spendete. Ja, hinter dieser Tür würde sie die Erlösung finden.
Declaire stand auf und rannte los, ließ den finsteren Keller hinter sich. Die versengten Wände flogen nur so an ihr vorbei, als sie durch den Gang stürmte, die Treppe hochstolperte und im Eingangsbereich ankam. Doch ihr Ziel war nicht in diesem Raum. So schnell sie ihre Beine trugen, rannte sie die Stockwerke nach oben. Die Bilder vergangener Zeit rasten an ihr vorbei. Das Lachen Sunhàos schallte in ihren Ohren und sie sah das Blut und die Pein ihrer Opfer. Spürte den Schmerz, den sie verursachte hatte. Der dunkle Schleier der Bürde legte sich um ihre Schultern, ließ sie langsamer werden, doch Declaire gab nicht auf.
Noch nicht!
Schließlich war Declaire angekommen. Im höchsten Stockwerk des Hotels, der Dachboden. Keine Zimmer für Gäste befanden sich hier.
Sie trabte durch den Gang, in dem viele Spiegel hingen. Vor einem der Spiegel blieb sie stehen. Er war hoch und hatte einen gezackten Rahmen, der aussah, wie ein weit ausgerissenes Maul eines Monsters.
Declaire sah in den Spiegel und jenes Monster, das sie sah, war sie selbst.
Sie knirschte mit den Zähnen und ließ den Spiegel hinter sich. Ihren Anblick konnte sie nicht länger ertragen.
Vor der letzten Tür des Raumes blieb sie stehen. Eine weiße Tür mit goldenem Schloss. Offenbar war die Tür abgeschlossen.
Declaire mühte sich nicht, den Schlüssel zu suchen. Sie schrie auf und mit aller verbliebener Kraft, die sie noch in ihren Muskeln spürte, trat sie die Tür ein. Eine gewaltige Druckwelle ließ die Tür aus ihren Angeln sprengen und schleuderte sie in den Raum, wo sie gegen die Wand krachte.
Ein Kreischen hallte aus dem Raum und Declaire erkannte die Stimme sofort wieder. Sie stürmte in das Zimmer und entdeckte um die Ecke ein kleines Bett, um das einen Schleier gelegt war, der nur die Silhouette einer Frau entblößte.
„Nein, geh weg! Bitte tu mir nichts!", schrie die Frau und wand sich auf dem Bett.
Declaire schloss die Augen und atmete erleichtert aus. Sie war froh, Lynn am Leben zu wissen. „Ich hätte es nicht übers Herz gebracht, sie tot zu sehen."
„Wer bist du?", forderte die Frau hinter dem verblendenden Schleier zu wissen.
Declaire trat näher an das Bett, schob den weißen Vorhang zur Seite und entdeckte die Füchsin, die sie gesucht hatte.
Lynn saß auf dem Bett, die grünen Augen weit aufgerissen. Die blonden Locken lagen auf ihren Schultern, umspielten ihr Gesicht. Ein prachtvolles Kleid schmückte ihren zarten Körper.
Declaires Blick wurde weich. „Du hast noch nie schöner ausgesehen. Du bist die hübscheste Frau auf Erden", murmelte sie.
„Claire!" Lynn wedelte mit dem Schweif und strich sich ein paar Locken aus dem Gesicht. „Wie konntest du mich so lange warten lassen? Meldest dich seit Jahren nicht und dann tauchst du plötzlich mitten in der Nacht auf. Ich muss zugeben, es war eine traumhafte Nacht und das Kleid, das du mir geschenkt hast, ist wirklich wundervoll."
Declaire sah sie aus trüben Augen an.
„Aber nach dieser Nacht in diesem Zimmer ... du bist nicht mehr zurückgekehrt. Hast mich hier eingesperrt. Ich kann von Glück reden, dass dies ein Vorratsraum ist, sonst wäre ich sicher verhungert."
Declaires Blick fiel auf Lynns Armband, das aus mehreren roten Perlen bestand, auf denen Symbole gezeichnet waren. Sie erinnerte sich, dass sie es war, die Lynn dieses Armband einst geschenkt hatte. Sie fühlte, wie sich ihr Magen zusammenzog und sich ihre Augen erneut mit Tränen füllten. „Jetzt bin ich hier."
„Oh Claire!" Lynn kraxelte über das Bett, fiel ihrer Freundin um den Hals und ließ auch ihre Tränen fließen.
„Du bist mir nicht böse, dass ich dich hier eingesperrt habe?"
Lynn seufzte tief. „Ich wusste, dass du zurückkehren würdest. Du hättest das nicht gemacht, wenn es nicht einen wichtigen Grund gehabt hätte."
„Ich wollte dich in Sicherheit wissen. Niemand würde dir etwas antun können. Oh Lynn ..."
Die Füchsin löste sich von der Umarmung und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Wie lang war ich eingesperrt? Darf ich nun dieses Hotel verlassen? Helen ist bestimmt wieder aufgetaucht. Sie wird sich schon fragen, wo ich bleibe."
Declaire sah auf. „Fünf Jahre. So lange war ich fort."
Lynn betrachtete sie verwirrt. „Wirklich? Dann war ich ein ganzes Jahr hier? Seitdem du damals fortgegangen bist, sind vier Jahre vergangen, bis du mich wieder hier im Hotel besucht hast."
Declaire schüttelte den Kopf und deutete auf den nun freigelegten Gang. „Lass uns gehen. Ich bringe dich zu Helen."
Lynn nickte hoffnungsvoll und folgte Declaire aus dem Zimmer.
„Wow, hier hat schon lange niemand mehr geputzt", fiel Lynn auf, während sie durch das Hotel liefen.
„Das Hotel ist verlassen. Genauso wie das ganze Dorf", merkte Declaire an und spürte, wie ihre Stimme immer zerbrechlicher wurde.
Lynn richtete ihr Brautkleid und versuchte, mit ihrer Freundin Schritt zu halten. „Wirklich? Und ich hatte mich schon gefragt, warum niemand in die Vorratskammer musste. Was ist eigentlich passiert? Wo warst du die ganze Zeit? Ich bekam immer nur Briefe von dir, mit dem Geld, das ich für den Aufenthalt im Hotel nehmen sollte."
Declaire erwiderte ihren Blick nicht und murmelte: „Ich wollte dir wohl dein Leben finanzieren. Es lief nicht so ab, wie es geplant war."
Als sie vor der Kellertür ankamen, verkündete Declaire: „Wir sind da. Helen befindet sich hinter dieser Tür. Die letzte Tür."
Lynn schien etwas verwundert über die düstere Stimmlage, doch sie öffnete die Tür, schnappte sich die llampe und durchschritt den Raum. „Helen! Mein Kind! Bist du hier? Deine Mutter ist schon ganz krank vor Sorge."
Declaire folgte Lynn mit gesenktem Blick.
Als der Schein der Lampe auf den toten Körper Helens fiel, zuckte Lynn zusammen. Sie stürzte hinab, fiel ihrer Tochter um den Hals und schrie: „Sie ist tot! Nein! Das kann nicht sein! Claire! Helen ist tot. Oh mein Kind."
Declaire betrachtete Lynn, die am Boden über ihrer Tochter kauerte und ertrug den Schmerz, den der Anblick mit sich brachte. Ihre Freundin so gebrochen zu sehen, zerriss Declaires Herz und sie machte sich bewusst, dass sie allein die Schuld an diesem Schmerz trug.
„Ich hab mein Versprechen nicht halten können", murmelte Declaire.
Mit Tränen in den Augen sah Lynn zu ihr auf. „Was meinst du damit? Was ist hier passiert?!"
Declaire legte die Hand auf Lynns Schulter und flüsterte: „Leg dich zu ihr. Sag ihr, wie sehr du sie liebst. Helen wird deine Worte brauchen."
Lynn sah Declaire noch einen Augenblick lang an, dann legte sie sich neben ihre Tochter und hielt sie fest an sich geklammert.
Declaire genoss noch einen Moment den traumhaft schönen Anblick ihrer Freundin in diesem Brautkleid, das so weiß und rein wie Lynns Seele war. Die Pantherin bemerkte, wie sehr sie im Kontrast zu ihrer Freundin stand, ihre Seele musste pechschwarz wie die dunkelste Nacht sein. Kein Licht würde den Schatten je berühren und die Tiefe würde sie auf ewig gefangen halten.
Declaire kniete sich nieder und hauchte mit gebrochener Stimme: „Lynn, ich habe dir versprochen, immer an deiner Seite zu sein. Ich habe mein Versprechen nicht halten können und habe nur Leid verursacht."
Ein Schluchzen drang aus Lynns Kehle und sie lauschte den Worten Declaires.
„Es tut mir so leid. Ich habe das nicht gewollt." Declaire ließ sich hinter Lynn auf den kalten Boden nieder und legte den Arm um die Füchsin. „Du hast diesen Schmerz nicht verdient."
Die Pantherin fuhr mit der Nase über den Nacken Lynns und atmete beruhigend.
Lynn verstand nicht, was all dies zu bedeuten hatte, doch sie genoss die Nähe ihrer Freundin und schloss die Augen.
„Ich werde das Leid von dir nehmen." Declaire ließ ihre Hand zu ihrem Ohr wandern und bekam den kleinen Haken ihres Ohrrings zu fassen.
Leise hauchte Declaire in Lynns Ohr: „Ich liebe dich."
Dann riss sie den Auslöser aus dem Ohrring und ließ sich in die tiefe Dunkelheit fallen.